Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
dieser Prozedur werde das Gefäß für wenige Augenblicke vollständig verschlossen sein. Ich solle mich also darauf einstellen, dass gleich noch einmal das Infarktgefühl auftrete, sogar schlimmer als beim Infarkt selbst. Anschließend werde er einen Stent setzen. Der verhindere, dass sich die Stelle wieder verschließe.
Dr. Williams zeigte mir, was ein Stent ist. Auf dem Schreibtisch stand ein Muster der Firma. Es war in Glas eingeschweißt – ein etwa zwei Zentimeter langes, zwei Millimeter dickes Rohr, das aus einem zusammengerollten Netz aus einer speziellen Metalllegierung bestehe, das mit einem Medikament beschichtet sei. Eine Erfindung, sagte Dr. Williams, wie von einem Kind ausgedacht. Der Erfinder sei Zahnarzt und ein Landsmann von ihm gewesen, Charles Stent. Es habe aber hundert Jahre gedauert, bis man dahintergekommen sei, was man mit seiner Erfindung alles anfangen könnte.
Während er mit mir in seinem leicht oxfordfarbenen Deutsch plauderte, schob er den Ballon und den Stent über den Katheter zu meinem Herzen.
»Bitte«, sagte er, »merken Sie sich den Schmerz genau. Darf ich Sie darum bitten? Es bedeutet mir sehr viel, zu wissen, wie der Tod sich ankündigt. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja«, sagte ich.
»Verstehen Sie es wirklich?«
»Ja«, sagte ich.
Während sich der Tod ankündigte, redete Dr. Williams weiter: »Jeden Tag kämpfe ich gegen ihn, und ich weiß nicht, wer er ist. Es ist nicht nur wissenschaftliche Neugier. Der Sinn meines Lebens hat zwei Teile, das Leben und den Tod. Alle reden nur vom Leben. Aber über das Leben gibt es nicht viel zu reden, das hat man. Man hat es vor sich, oder man hat es hinter sich. Leben ist immer und überall. Der Tod ist einmalig. Aber wenn sich ein Arzt nicht nur für das Leben, sondern auch für den Tod interessiert, gilt er als rücksichtslos.«
Der Stent war implantiert, Dr. Williams zog sein Handwerkszeug aus meinem Körper und drückte den Daumen mit Kraft auf die Wunde in meiner Leiste.
Schwester Ruth stand mit einem Pflaster und einem Sandsack bereit.
»Wie ist es?«, fragte er.
»Weiß nicht«, sagte ich.
»Das sagen alle«, seufzte er. »Alle sagen, sie wissen es nicht. Erst erzählen sie einem, der Tod klopft an die Knochen oder sie selbst klopfen an die Himmelstür oder ähnliche Geschichten. Und dann sagen sie, sie wissen es nicht. Eigenartig. Aber alle haben es gern, wenn wir darüber sprechen.«
Er nahm den Daumen von der Wunde, Schwester Ruth reichte ihm das Pflaster, er verklebte die Stelle, und sie legte den Sandsack darauf. Ein Pfleger schob mich aus dem OP. Dr. Williams und Schwester Ruth winkten mir nach.
Im Überwachungsraum warteten fünf Patienten, Frauen und Männer. Und ein Kind. Bei dem Kind saßen Mutter und Vater. Es waren Türken. Der Vater trug einen Bart, die Mutter ein Kopftuch. Ich schloss die Augen und hörte ihnen zu. Ihr Gespräch drehte sich um Schönheit und Liebreiz, um Locken auf dem Kopf, um Süße im Mund, um enge schwarze Hosen, um die Brille und um die Idee von Kontaktlinsen, um das Schneiden der Fingernägel und um Schwalben.
Nachts saß Sebastian an meinem Bett. Sehr ernst war er. Mit dem Arzt hatte er gesprochen. Mit einem befreundeten Kardiologen hatte er auch gesprochen. Der wollte mich in den nächsten Tagen sehen. Die Blutuntersuchung hatte ergeben, dass ich einen exorbitant hohen Cholesterinspiegel hatte, bei niedrigem HDL und hohem LDL. Ich hatte mich nie einer Vorsorgeuntersuchung unterzogen. Weil ich schlank war und mich hauptsächlich von Obst und Gemüse ernährte, schob man die Schuld an diesen Werten der Veranlagung zu. Ich bekam ein cholesterinsenkendes Medikament, einen Betablocker und ein leichtes Aspirin verschrieben. Mein Blutdruck war niedrig und bildete keinen Risikofaktor. Ich solle mich, sagte die diensthabende Ärztin, zur Rehabilitation entweder ambulant in ein Studio oder in ein Sanatorium begeben, aber wenigstens für vier Wochen, darunter habe es keinen Sinn und sei nur rausgeschmissenes Geld. Sebastian, sehr blass, nickte, er werde sich um alles kümmern. Ich sagte, eine Kasernierung käme für mich nicht in Frage. Daran habe er auch nicht gedacht, beruhigte er mich. Er hatte sich auch darum gekümmert, dass ich in einem Einzelzimmer untergebracht worden war, und hatte mir Bananen mitgebracht. Die Ärztin spritzte mir ein Schlafmittel.
Sebastian sei lange an meinem Bett sitzen geblieben, teilte mir die Stationsschwester am Morgen mit.
9
Zwei jüdische
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