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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ich bei jenem Nachmittag, als ich zum Bewusstsein erwacht war – als ich nach dem Mittagsschlaf die Augen geöffnet hatte und Moma nicht mehr da gewesen war, nicht in der Küche, nicht im Schlafzimmer, nicht in ihrem Arbeitszimmer; als ich Wasser aus dem Brunnen in der Küche trank und das Brot mit den Fingern aushöhlte; als ich die Blumentöpfe von den Fensterbrettern fegte und mit der Erde Straßen und Städte baute; als ich die Wohnung in der Báthory utca Nummer 23 verwüstete und zum ersten Mal mein Gesicht in dem geschliffenen Spiegel im Badezimmer erkannte.
    In der ersten Nacht erzählte ich bis in den Sommer 1956 , als Mama, Papa, Moma, Opa und ich Ungarn verlassen hatten und in der freien Welt unter freiem Himmel lagen, Lieder sangen und dazu tanzten und die Salamiwurst vom Fleischhauer Radványi, den Brotlaib vom Bäcker Szegedi, die Tomaten, Paprika und Karotten von Tante Marthas Schrebergarten und die Reste vom gefüllten Kraut gerecht untereinander aufteilten und uns den Mund mit den Händen und die Hände im Gras abwischten.
     

7
     
    Früher waren im Café Museum die Schachspieler in einem Hinterzimmer gesessen. Inzwischen war das Lokal renoviert worden, das Schachzimmer existierte nicht mehr. Als ich in der Boltzmanngasse im Studentenheim der Theologen gewohnt hatte, war ich manchmal in die Stadt gefahren, um den Spielern zuzuschauen. Ich weiß nicht, warum mir nie eingefallen war, einen von ihnen herauszufordern. Ich bewunderte die zerknitterten Männer mit den flachen A3 im Mundwinkel, die durch den Rauch hindurch ihr Gegenüber anblinzelten, als wär er ein Stück Holz. Sie hatten viele Tricks auf Lager. Sie spielten nur um Geld. Der Einsatz musste vor der Partie von beiden Spielern unter dem Brett deponiert werden, nur Scheine. – Ich fragte den Kellner, ob er wisse, wohin die Schachspieler gezogen seien. Er nannte mir ein Kaffeehaus im 3. Bezirk.
    Den neuen Vorschriften gemäß, teilte sich das Lokal in ein Nichtraucher- und ein Raucherteil auf. Im Raucher saßen sie. Es waren neun Tische, jeder groß genug, um zwei Getränken, einem Aschenbecher, der Schachuhr und dem Brett Platz zu bieten. Es gab Sesshafte und Wanderer. Etliche Sesshafte lebten vom Spiel.
    Ich trug neue Sachen. Die mir Sebastian spendiert hatte. Ich wusste, wie ich aussah: wie einer, der Geld hatte und bereit war, es für ein intelligentes Vergnügen auszugeben. Ich hatte Geld, nicht sehr viel, aber genug, um es zu vermehren. Ich hatte es aus Sebastians Barreserve genommen, die in einer Blechbüchse hinter Büchern verwahrt war. Das Geld war selbstverständlich nur geliehen.
    Auf einen wie mich hatte man hier gewartet. Ich spielte den Russen. Попытка – не пытка. Damit war ich doppelt interessant. Erstens stehen die Russen seit jeher im Ruf, gute Schachspieler zu sein; zweitens stehen die Russen seit neuestem im Ruf, viel Geld zu haben.
    Erst beobachtete ich die Spieler, dann die Beobachter. Ein Trick ging so: Zwei Sesshafte spielten gegeneinander, einer von ihnen tat, als wäre er ein Wanderer, ein Deutscher zum Beispiel, ein Tourist. Die beiden lieferten eine anständige Partie ab, keine besonders gute, aber auch keine schlechte. Der vermeintliche Tourist gewann und kassierte, gab Revanche, gewann und kassierte. Das sollte einen Beobachter ermuntern, es ebenfalls zu probieren. Wenn sich einer fand, ließ ihn der Sesshafte ebenfalls zwei- oder dreimal hintereinander bei relativ geringem Einsatz gewinnen. Ab dem dritten Mal wurde der Wanderer »gewurzt«. Wenn er aufhören wollte, wurde ihm deutlich – sehr deutlich! – mitgeteilt, dass es in Wien üblich sei, eine Revanche zu geben.
    Die Wanderer wurden in Touristen und Gäste unterschieden. Touristen wurden »ausgewurzt«, das heißt, ihnen wurde möglichst an einem Abend abgenommen, was sie bei sich hatten. Den Gästen hingegen sollte die Laune nicht endgültig verdorben, die Hoffnung nicht endgültig genommen werden. Beim Heranzüchten einer Spielsucht muss man mit Geduld vorgehen; der Antrieb auch dieser Sucht ist die Hoffnung, eines Tages die nicht mehr überbietbare Befriedigung gewährt zu bekommen.
    Ich suchte mir den Sesshaften aus, den ich für den schwächsten Spieler hielt. Ich urteilte nach dem Gesicht, nicht nach den Partien, die er spielte, die konnten geblufft sein – zum Beispiel, um jemandem wie mir weiszumachen, er sei der schwächste Spieler. Er hatte ein tiefes Grübchen im Kinn, in dem sich schwarze Barthaare vor dem Rasierapparat

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