Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Italienisch beibringen. Die deutsche Sprache, sagte sie, klinge, als würden vertrocknete Äste zerbrochen, Italienisch dagegen sei weich und geschmeidig wie Mozzarella Burrata.
Ernst Thälmann und Helena Ortmann verbrachten im Mutterland der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution eine unbeschwerte, glückliche Zeit miteinander – während die kapitalistische Welt von einer kataklystischen Finanzkrise erschüttert wurde: Im August betrug der Wert einer Goldmark 1 Million, im September 23 Millionen, im Oktober 6 Milliarden und im November 522 Milliarden Mark. Sie spazierten durch die Parks, er wunderte sich über die Platanen, ihre Rinde sehe aus, als würde der Baum Selbstmord begehen. Sie sagte, er sei ein Clown. Er sagte, ja, aber sie dürfe es niemandem weitererzählen. Sie wohnten im Hotel Lux, dem Gästehaus der Komintern. Sie hatten zwei getrennte Zimmer, in der Nacht schlichen sie zueinander. Das missfiel ihnen, sie waren schließlich keine Backfische mehr.
Über Weihnachten fuhr Ernst Thälmann zu seiner Frau nach Hamburg. Helena Ortmann blieb in Moskau. Sie mietete eine kleine Wohnung in Samoskworetschje, im Zentrum von Moskau, und richtete sie nach ihrem Geschmack ein. Sie fühlte sich unwohl, wenn in ihrer Bleibe keine Bilder an der Wand hingen, das war schon immer so gewesen. Ihr war, als würde sie im nächsten Moment abgeholt und die Wände würden sie nicht festhalten und beschützen, warum auch, sie hatten ja nichts mit ihr zu tun. Aber es gab keine Geschäfte mit Bilderrahmen in Moskau, nicht eines, und es gab auch keine Bilder. Sie suchte die Stadt nach einer Schreinerei ab und wurde schließlich dem Heizer von dem neuen Schulungsheim für junge Elektrotechniker hinter dem Sadowoje-Ring vorgestellt, der habe sich im Keller eine kleine Werkstatt eingerichtet, weil immer dies und das anfalle. Er verkaufte ihr ein paar dünne Holzlatten. Die sägte sie mit dem Brotmesser zurecht, geschickt war sie, und bastelte Bilderrahmen in verschiedenen Größen daraus. Sie strich sie mit Schuhcreme ein, die sie im Hotel Lux bei einem Genossen aus Rumänien erstand. Sie schnitt aus der Prawda Artikel aus, die schön gesetzt waren, oder spannte ein Stück Stoff ein, das ein interessantes Muster hatte, oder riss von einer Broschüre der Komintern das Titelbild, das den Genossen Lenin zeigte, wie er gerade scharf nachdachte, und heftete es in den entsprechenden Rahmen. Anfang Januar kehrte ihr Geliebter zurück. Er war begeistert. Ein Rahmen war übrig geblieben, den hielt er sich vors Gesicht und stellte sich damit vor den einzigen leeren Fleck an der Wand. Er dürfe nur nicht wackeln, sagte sie, dann würde man ihn von den anderen Bildern nicht unterscheiden können. – Nun lebten sie zusammen wie Mann und Frau, arbeiteten gemeinsam für die Revolution und saßen am 21. Januar 1924 gemeinsam am Tisch in ihrer kleinen Küche, als die Welt erfuhr, dass Wladimir Iljitsch Lenin gestorben war.
Ernst Thälmann habe sich erlaubt zu weinen, erzählte meine Großmutter. Eine Stunde lang habe er an ihrer Brust geweint, und sie habe ihn getröstet wie einen Buben, dessen Vater in den Klassenkämpfen sein Leben gelassen hatte. In der Nacht waren sie aufgebrochen, um die Genossen zu treffen, die voll Hoffnung als Delegierte der Komintern aus aller Herren Länder in die Hauptstadt der Sowjetunion gekommen und nun bis ins Mark verzweifelt waren, als wäre der Tod dieses einzigartigen Menschen ein Betrug der Natur, eine gebrochene Verheißung. Ernst Thälmann versuchte, den Trost weiterzugeben, den er von meiner Großmutter erfahren hatte. Sie übersetzte.
In der Nacht des 24. Januar hielten sie gemeinsam von 0:00 bis 0:30 an Lenins Totenbahre die Ehrenwache. Auf dem Nachhauseweg in der beißenden Kälte hat sich – und das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit! – Ernst Thälmann zu meiner Großmutter niedergebeugt und ihr durch die Kapuze ihres Mantels und durch die Daunenmütze darunter ins Ohr geflüstert: Lenin sei der einzige Gottesbeweis, den er gelten lasse. In derselben Nacht, aufrecht im Bett sitzend, während sie sich an ihn schmiegte, entwarf er den Text einer Resolution, die von der Kommunistischen Partei Deutschlands an die Kommunistische Partei Russlands/Bolschewiki gesandt werden sollte und worin die große Bruderpartei aufgefordert wurde, dafür zu sorgen, dass die Schriften Lenins raschest dem deutschen Proletariat zugänglich gemacht werden, wobei strengstens darauf zu achten sei, dass in der
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