Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
befugt, eine Entscheidung zu treffen. Man werde mich nach Erfurt bringen, wo ein weiteres Gespräch mit mir geführt werde. Zum Abschied gab sie mir dann doch die Hand, was ich dahin gehend interpretierte, dass sich ihre Funktion ausschließlich über ihre Arbeit definierte, dieselbe aber mit dem Ende ihrer Befragung – die eigentlich nur aus Zuhören bestanden hatte – eingestellt war und sie nun für einen Augenblick wenigstens »persönlich« sein durfte. Auch die Diensthundführerin gab mir zum Abschied die Hand. Diese blieb in der meinen um eine Sekunde länger liegen, als für eine übliche oder eine von der Vorschrift empfohlene Höflichkeit nötig gewesen wäre.
2
In Erfurt wurde ich im Hotel Zum Bären untergebracht. Die Fenster meines Zimmers waren vergittert, vor der Tür postierten sich zwei Volkspolizisten. Es stand mir frei, einen Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen, allerdings in Begleitung meiner Bewacher; was mir das angenehme Gefühl gab, man halte mich für eine wertvolle Person. Nach dem Spaziergang lud ich die beiden Polizisten in mein Zimmer ein. Sie machten es sich auf dem Bett kommod, ich setzte mich zu ihnen, und sie zeigten mir, wie man Skat spielt. Ich gewann ein paar Münzen, die leichter waren als Luft. Sie boten mir Zigaretten an und ein Medikament, falls ich Probleme hätte einzuschlafen. Hatte ich nicht, ich schlief wie ein Bär im Winter (im Hotel Zum Bären ), schlief zehn Stunden, frühstückte um Mittag, schlief den Sonntagnachmittag durch, aß mit den Polizisten zu Abend, spielte mit ihnen Karten und legte mich wieder hin. Ich träumte verkehrte Welt. Ich träumte, ich wäre ein Bär und schlüge die Polizisten tot und schleppte sie in meine Höhle und verzehrte sie dort mitsamt ihren Kleidern. Die Hälfte kotzte ich aus und wälzte mich darin und rieb mir mein Fell ein, damit die anderen Bären es röchen und von meinem großen Fang erführen und sich wunderten, wie mir, dem Neuen, solches Jagdglück hätte widerfahren können. Die Köpfe meiner Beute waren wie Bälle, ich spielte mit ihnen, schubste sie zwischen meinen Pranken hin und her, und als ich keinen Sinn mehr dafür hatte, schmetterte ich sie gegen die Wand.
Am Montagmorgen um neun wurde ich von meiner Leibgarde in das Büro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands geführt, wo mich Hannelore Fischer, die Stellvertreterin von Alois Bräutigam, dem Ersten Sekretärs der SED Bezirksleitung Erfurt, begrüßte und mir erklärte, dass der Genosse Bräutigam wegen eines Krankheitsfalls in der Familie leider verhindert sei, sie ihn aber gern und, wie sie hoffe, zu meiner Zufriedenheit vertreten werde. Sie wies mir einen Fauteuil zu und ermunterte mich, meine Geschichte noch einmal zu erzählen, noch einmal auf Tonband.
Ich erzählte. Und wieder erzählte ich gern.
Eines Tages waren die Delegierten des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, darunter Ernst Thälmann und meine Großmutter, zu einer Feier in eine Militärschule eingeladen, wo sie der berühmte Reitergeneral der Roten Armee, Semjon Michailowitsch Budjonny, begrüßte. Der General hielt eine Rede – die von meiner Großmutter übersetzt wurde –, in der er auch auf Ernst Thälmann zu sprechen kam. Dieser habe als Führer des glorreichen Hamburger Arbeiteraufstandes der Welt gezeigt, dass der Mensch für die Freiheit bestimmt sei und dass die Ausbeuter und ihre Vasallen vor einer entschlossenen Faust erzitterten, und habe damit den Unterdrückten in den Städten und auf dem Land Trost und Hoffnung gegeben. Ein Orden wurde überreicht und eine Urkunde, aus der hervorging, dass ein Regiment der ruhmreichen Roten Armee künftig den Namen Ernst-Thälmann-Regiment tragen werde. Als sie am Abend wieder allein waren, fragte Ernst Thälmann meine Großmutter, ob sie ihn trotzdem liebhabe. Es sei ihm wichtig gewesen, dass er nicht als eingebildet gelte. Er nannte sie liebkosend »meine Nelke«.
In dieser Nacht ließen sie ihrer revolutionären Phantasie freien Lauf. Der Papst, begeisterte sich Ernst Thälmann, verkünde zu Ostern den Segen urbi et orbi in den Sprachen aller Katholiken der Welt, warum sollte es der Komintern nicht möglich sein, eine vergleichbare Formel in den Sprachen aller Kommunisten der Welt zu entwickeln. Meine Großmutter schlug vor, dass sie gemeinsam eine ähnliche Formel erarbeiteten. Fünf lebende und zwei bis drei tote Sprachen könne sie beisteuern. Bei dieser Gelegenheit wolle sie ihm ein wenig
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