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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Übersetzung kein Wort verloren, kein Jota verändert werde.
    Ernst Thälmann zog für die Kommunistische Partei in den Deutschen Reichstag ein. Auch meine Großmutter übersiedelte nach Berlin. Im Sommer besuchte sie einen Genossen Arzt, der ihr bestätigte, was sie in sich fühlte: dass sie schwanger war.
     
    Nachdem mir die Stellvertreterin des Ersten Sekretärs der SED Bezirksleitung von Erfurt, Hannelore Fischer, nicht weniger aufmerksam zugehört hatte als Oberleutnant Erika Stabenow von der Grenzbrigade 13, sagte auch sie, sie sei tief bewegt von meiner Geschichte, jedoch nicht befugt, eine Entscheidung zu treffen. Sie führte ein langes Telefongespräch. Währenddessen wartete ich im Vorraum. Ihren Assistenten und Chauffeur, der mir Gesellschaft leisten sollte – und der mich unentwegt entgeistert anstarrte, als würde nicht ich lächeln, sondern mein Hut –, beauftragte sie, alle Termine für diesen Tag abzusagen. Wir müssten mit größter Wahrscheinlichkeit nach Berlin ins Ministerium fahren.
    Wir fuhren nach Berlin – in einer Wartburg 311 -Luxus-Limousine, viertürig, zweifarbig, beige und weiß, ein wirklich properer Wagen, der ein wenig stotterte, weswegen ich Genossin Fischer mitten auf der baumgesäumten Landstraße fragte, ob ich mir den Motor ansehen dürfe; was sie erlaubte. Unter den staunenden und in vielerlei Hinsicht ängstlichen Ausrufen des Genossen Chauffeur behob ich mir nichts, dir nichts mit nichts anderem als einem Zehnpfennigstück aus Aluminium (das ich beim Skatspiel gewonnen hatte) den Schaden, indem ich den Verteilerkopf von Ablagerungen reinigte. In bester Stimmung fuhren wir weiter und kamen am Abend in der Hauptstadt der DDR an. Ich wurde im Gästehaus des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg untergebracht. Zwei Zimmer standen mir zur Verfügung und ein geräumiges Bad. Das Deckenlicht im Badezimmer ließ sich dimmen. Das war mir besonders angenehm, als ich in der Wanne lag.
     
    Wieder träumte ich. – Ich habe schon sagen hören, jene Träume, die einem in der ersten Nacht in einem neuen Bett kommen, die solle man sich merken, denn mit ihnen habe es so ihre Bewandtnis. Aus diesem Nachtmärchen erwachte ich mit heißen Händen.
    Wieder träumte ich von Tieren. In der ersten Nacht im Bett des Gästehauses des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin durchstreifte ich die Windungen meines Gehirns als ein Löwe und streifte zugleich durch die Savanne, war satt und ein bisschen müde und suchte ein Weibchen, mit dem ich mich paaren wollte. Ich lebte in Afrika, das in dem Traum ein überschaubares Ländchen war. Der Löwe zeigte sich mit der Entwicklung seiner Heimat sehr zufrieden. Niemals, sagte er sich, während er über das Gras trottete, niemals hätte Afrika all die Schicksalsschläge überlebt, die belgische Handabhackerei, die deutsche Volksvernichtung durch Hunger und Durst, die holländische, englische, französische Ausbeutung und Unterdrückung, die arabische Sklavenhatz, die menschenfressenden Diktaturen und die korrupten Kaiser, wenn es nicht der DDR einverleibt und auf deren Grenzen eingeschrumpft worden wäre. Alles war dadurch intensiver geworden und reiner. Wie wenn man Fruchtsaft zu Sirup einkocht. Die Gräser dufteten mehr nach Gras, das Wasser löschte den Durst auf eine befriedigende Weise, die man im alten großen Afrika nicht für möglich gehalten hätte, das Fleisch der Gazellen war saftiger, das Blut würziger, und der Geschlechtsverkehr mit den Löwinnen war mit dem Sex, wie man ihn bis dahin gehabt hatte, nicht zu vergleichen. Und wie ich über das weiche Gras schlenderte, kam mir ein Rudel Hyänen entgegen. Ihr Rücken fiel nach hinten ab zu den kurzen Hinterläufen, zottig und zerrauft war ihr Fell, schwarz getüpfelt bis zu den Hängebäuchen. Runde kinderfreundliche Ohren saßen an ihrem Kopf, aber ihre Schnauzen waren schwarz von verkrustetem Blut, und ihre Lefzen waren nass und tropften. Sie umzingelten mich und versuchten, mich in ein Gespräch zu ziehen. Sie schnürten im Kreis um mich herum, sie erhoben sich auf ihre Hinterläufe, sie waren ausgestattet mit Baseballschlägern und Ketten. Ich war ein Löwe, und Löwen können Absichten riechen, und ich konnte ihre Absicht riechen: Sie wollten töten. Wie sie mit mir sprachen, aus den Fragen, die sie mir stellten, schloss ich, dass sie Philosophen oder sogar Theologen waren. Sie hatten sich tiefe Gedanken über den Tod gemacht und waren sich einig: Er ist ein Skandal.

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