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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Tischs ein Tonbandgerät und ein Mikrofon hervor. Sie legte ein Band ein und startete die Maschine. Der junge Soldat brachte den Tee. Ich erzählte. Und ich erzählte gern.
     
    Meine Großmutter, Helena Ortmann, stammte aus Italien, sie war Kommunistin und gehörte der Partei seit deren Gründung an. Sie war die Sekretärin von Amadeo Bordiga gewesen, bis dieser von den Faschisten verhaftet wurde. 1923 wurde sie von der Partei als Delegierte zu einem Treffen des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale nach Moskau entsandt, wo der V. Weltkongress der Komintern vorbereitet werden sollte. Helena Ortmann war fünfundzwanzig Jahre alt, sie war in Bozen in Südtirol aufgewachsen, studierte in Rom Ägyptologie, sprach perfekt Deutsch und Italienisch. Außerdem sprach sie praktikabel Französisch und Englisch und befriedigend Russisch sowie Latein und Altgriechisch und war in der Lage, altägyptische Hieroglyphen zu lesen.
    Am 1. Mai nahm Helena Ortmann auf dem Tagnaskaja-Platz im Rogoshsko-Simonowski-Stadtbezirk an einer Freundschaftskundgebung mit Moskauer Arbeitern teil. Sie stand auf der Ehrentribüne zwischen dem sowjetischen Volkskommissar für Bildungswesen Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski und einem Abgesandten der Kommunistischen Partei Deutschlands, einem stämmigen Mann mit der typischen Hamburger Schiebermütze, dem sogenannten Fleetenkieker. Lunatscharski, der aus der Zeit seines Schweizer Exils Deutsch konnte, gratulierte dem deutschen Genossen zu seiner bezaubernden Begleitung, worauf Helena Ortmann klarstellte, dass sie ihren Nebenmann noch gar nicht kennen gelernt habe. – Also der Genosse Lunatscharski, der vom Genossen Lenin persönlich in die Funktion als Chef des Narodny Kommissariat Prosweschtschenija berufen worden war, war es gewesen, der meine Großmutter und Ernst Thälmann einander vorgestellt hatte …
     
    Ich benötigte für meine Geschichte eine knappe Stunde. Im Zug von Wien hatte ich sie mehrere Male in meinem Kopf durchgespielt und mit meiner Uhr auf diese Länge getrimmt. In den Tagen vor meiner Abreise aus der alten Welt war ich in der Badewanne meiner Suite im Hotel Imperial gelegen (damit sich der letzte Ruß aus den Poren meiner Haut löse) und hatte in Ernst Thälmann. Ein Beitrag zu einem politischen Lebensbild von Willi Bredel gelesen und versucht, mir ein privates Lebensbild meines zukünftigen Großvaters zu malen. Vor allem hatte ich nach blinden und losen Stellen in seiner Biographie geforscht, in die eine mögliche Geschichte meiner möglichen Vorfahrin eingefügt werden könnte. Ich rechnete damit, weitergereicht zu werden, und zwar nach oben weitergereicht zu werden. Wer würde sich selbst so ohne weiteres als befugt erklären, über das private Leben des größten Helden des Landes zu befinden? Ich rechnete ferner damit, dass sich meine Position von Erzähltermin zu Erzähltermin festigte, nämlich, weil jeder Vorgesetzte, von seiner eigenen Wichtigkeit überzeugt, voraussetzte, seine Untergebenen reichten nur Wichtiges an ihn weiter; und je höher der Vorgesetzte säße, desto mehr Gewicht – und Glaubwürdigkeit! – würde einer Sache zugestanden, sonst hätte sie es ja nicht bis hierherauf geschafft. Ich hielt mich für sehr klug. Ich meinte, nichts übersehen zu haben. Und dennoch hatte ich etwas übersehen – und keine Kleinigkeit. Heute scheint mir diese Dummheit, die ich mir, als sie herauskam, als unverzeihlich vorwarf, gar nicht mehr als eine solche, sondern als ein Lehrbeispiel für die fatale Verhakung von Identifikation und Verdrängung zu sein – aber genug der Anspielungen! Ich will mein Pulver nicht auf einmal verschießen.
     
    Leutnant Erika Stabenow von der Grenzbrigade 13 hörte zu, ohne mich zu unterbrechen. Wenn das Band gewechselt wurde, machte ich eine Pause. Der Soldat schenkte uns Tee nach. Die Diensthundführerin sah mich immerzu an, während ich sprach; anders als ihre Vorgesetzte, in deren Augen ich nichts zu lesen fand, sah sie mich mit Sympathie an. Sie rückte mit ihrem Sessel zurück zur Wand, so dass sie außerhalb des Blickfeldes ihrer Vorgesetzten war. Sie trug zwar auch eine Waffe, ich vermutete aber, dass diese nicht geladen war.
    Als meine Erzählung ans Ende gekommen war, stand Oberleutnant Stabenow auf und entschuldigte sich, dass ich, wenn auch nur für kurze Zeit, hier eingesperrt worden sei. Sie sei, fuhr sie mit gleichbleibend emotionsloser Stimme fort, tief bewegt von meiner Geschichte. Sie sei jedoch nicht

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