Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Ein Leben lang, so erklärten sie mir ihre Theorie, ein unberechenbares, quälend unsicheres Leben lang hat man Angst vor dem Tod, immer denkt man, wie erwischt es mich, was wird sein, wenn ich niedersinke, wann wird es sein, wo wird es sein, was wird mir durch den Kopf gehen, wer wird bei mir ausharren – und wenn es endlich so weit ist, treffen Leben und Tod in einem Punkt aufeinander. Erst Leben, dann Tod. Ein – aus. Kürzer als eine Sekunde. Die kürzeste Zeitdauer, die sich denken lässt. Das ist enttäuschend, sagten die Hyänen. Bedenke! Wenn es tatsächlich ähnlich abläuft, waren das Bangen und Hoffen, das Grübeln und Spekulieren umsonst. Was hätte man mit dieser Zeit alles anfangen können! Der Skandal besteht darin, dass wir das Leben als unser einziges Haus erst erkennen und erst schätzen, wenn wir den Tod als Dach darüber denken. Aber der Tod, der ist immer in der Zukunft. Und plötzlich tritt er ein, und das Leben ist weg und mit dem Leben die Zeit, die wir bräuchten, um es zu erkennen. Ein – aus. Ein – aus. Muss sich da einer nicht betrogen vorkommen? Wäre ein langer Tod nicht wünschenswert? Wir Hyänen sind der Meinung, erst ein langer Tod gibt uns ein intensives Leben, nicht nur die Vorstellung eines intensiven Lebens, sondern das Leben selbst: Wir wissen, jetzt kommt er, aber wir leben noch. Er rückt näher, aber wir leben noch. Gleich berührt er uns, aber wir leben noch. Ich rieche schon seinen Atem, aber ich lebe noch. Kann man sich ein intensiveres Leben vorstellen? Wir Hyänen meinen: Nein, kann man nicht. – So ähnlich sprachen sie zu mir, dem Löwen, während sie um mich herumgingen und ihre Kreise immer enger zogen. Sie schwangen ihre Baseballschläger und ihre Ketten, und sie zeigten ihr Gebiss, das dem Gebiss des Löwen in nichts nachsteht. Ja, sagte ich, ihr habt recht. Darum wollt ihr mich zu Tode quälen. Weil ihr wollt, dass der Tod lange dauert. Das wollen wir, sagten sie. Damit die falschen Gefühle und falschen Gedanken in deinem Leben nicht für die Katz waren. Verstehst du das? Darum wollen wir dich langsam zu Tode quälen. Das verstehe ich, sagte ich, aber das ist hier nicht üblich, es ist hier nicht mehr üblich. Es ist im neuen Afrika nicht mehr üblich, sagte ich und riss mein Sturmgewehr von der Schulter und schoss. Da waren es auf einmal viel mehr Hyänen, als ich zuerst geschätzt hatte. Aber das spielte keine Rolle, ich hatte genug Munition im Gürtel, und dass die Waffe in meiner Pfote heiß wurde, empfand ich als angenehm. Ich schoss, und sie fielen.
3
Im Frühling 1925 brachte meine Großmutter ein Mädchen zur Welt. Sie hätte es gern Rosa getauft, nach Rosa Luxemburg, aber das wollte Ernst Thälmann nicht – aus verständlichen Gründen: Seine Frau hieß so.
Meine Mutter, Elise-Marie Ortmann, wuchs in Berlin auf. Ernst Thälmann bemühte sich, sein Töchterchen wenigstens manchmal zu sehen. Er arbeitete viel, war oft unterwegs, besuchte Versammlungen, hielt Reden, die Verantwortung lastete schwer auf ihm. Und der Konflikt in seinem Herzen zermürbte ihn; in Hamburg wartete seine Frau auf ihn. Aber er war ein liebevoller Vater; wenn er kam, so erzählte meine Mutter, wurde es im Winter wärmer und im Sommer kühler, die Limonade schmeckte süßer, und der Braten war fetter.
Als die Nazis die Macht an sich rissen, riet Ernst Thälmann meiner Großmutter, mit dem Kind nach Österreich zu übersiedeln. – Die beiden sahen ihn nie wieder.
Jeden Abend vor dem Einschlafen erzählte Helena Ortmann ihrer Tochter von dem großen Arbeiterführer, der ihr Vater war und der irgendwo weit oben in Berlin gegen das Böse kämpfte. Nach dem Krieg erfuhren sie, dass Ernst Thälmann auf persönlichen Befehl Hitlers am 18. August 1944 im KZ Buchenwald von dem SS-Oberführer Pister als Kommandanten, dem SS-Sturmbannführer Schobert als 1. Schutzhaftlagerführer, dem SS-Obersturmführer Schmidt als Adjutanten des Kommandanten, dem SS-Sturmbannführer Bender als Lagerarzt, dem SS-Sturmscharführer Helbig als Kommandoführer des Krematoriums und dem SS-Oberscharführer Otto als Stabsscharführer ermordet und seine Leiche mitsamt den Kleidern verbrannt worden war, was Zeugen daraus schlossen, dass der Rauch dunkel gewesen sei; da haben sie in Tulln im Garten ihres Häuschens, der bis zur Donau hinunterreichte, eine Laterne aufgestellt, in der immer eine Kerze brannte.
Meine Mutter heiratete den Automechaniker Johann Koch, er war ein Riese von einem Mann, auf
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