Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
seinen Kopf passte kein gewöhnlicher Hut. Als ich zur Welt kam, nannten mich meine Eltern in ehrendem Andenken an meinen Großvater: Ernst-Thälmann. Meine Mutter erzählte mir oft von dem Land, das Deutsche Demokratische Republik hieß und in dem mein Großvater der größte Held sei.
     
    Ein Dutzend Mal habe ich meine Geschichte erzählt oder öfter, und sie wurde wieder und wieder aufgenommen, es müssen Kilometer von Tonbändern gewesen sein. Außer an die genannten Zuhörerinnen erinnere ich mich an: zwei Genossen vom Ministerium für Staatssicherheit (beide in zementfarbenem Anzug und dunkelbrauner Krawatte wie der Genosse Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, der hinter ihnen an der Wand hing); die Gattin des Chefs der Militärakademie Friedrich Engels (die sich als »Frau Generalmajor« vorstellte und ein Blech Streuselkuchen mitbrachte und meine Sommersprossen lobte und mir schöne Augen machte); die Büroleiterin des Politbüros des Zentralkomitees der SED (dieses Gespräch fand im Haus am Werderschen Markt statt, einem pompösen Gebäude, durch das ich in Begleitung von acht ernsten Männern in Uniform geführt wurde, vier rechts, vier links von mir, was ich als Ehrerweisung mir gegenüber interpretierte – zu Recht, wie mir die Genossin Büroleiterin später in tadelndem Ton bestätigte, als ermahne sie mich dringend um mehr Respekt vor meinem Blut); ein Ehepaar – er, Leiter der Hauptabteilung VI des Ministeriums für Staatssicherheit, Passkontrolle, Tourismus, Interhotel – sie, Leiterin des Restaurants Zille Stube im Interhotel Stadt Berlin (die beiden überreichten mir einen Blumenstrauß und waren sehr verlegen, als ich sagte, ich verfüge leider über keine Vase; die Frau wühlte daraufhin in ihrer Handtasche und überreichte mir – mit Blick auf ihren Mann, der, anstatt zu nicken, mit gebändigter Ungeduld einmal die Lider senkte und wieder öffnete – eine in durchsichtigem Plastik eingeschweißte »Sondergenehmigung, betreffend den kostenlosen Gebrauch sämtlicher Einrichtungen der Hotelkette Interhotel«); zuletzt eine Frau, die ihren Namen und ihre Funktion oder Stellung in diesem Land nicht nannte und mit einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht mit mir sprach (und während meiner Erzählung, die auf ihre Anweisung hin in einem abgedunkelten Raum stattfand, in meinem Rücken saß und eine Zigarette nach der anderen qualmte und mir solidarisch lachend eine über die Schulter reichte, als ich sie fragte, ob ich mithalten dürfe – amerikanische Philip Morris, wie ich im Schein der Streichholzflamme über dem Filter las). – An die anderen Erzählstunden und deren Zuhörer und Zuhörerinnen erinnere ich mich zu wenig oder gar nicht mehr.
    Immer bin ich freundlich behandelt worden, das möchte ich ausdrücklich festhalten. Immer hieß es, man sei tief bewegt von meiner Geschichte. Aber immer hieß es auch, man sei nicht befugt, eine Entscheidung zu treffen. Wobei ich auf die Frage, welche Entscheidung denn eigentlich anstehe, nur hörte, auch dies zu beantworten sei man nicht befugt. Wer denn befugt sei, fragte ich und bat, mich dieser Person doch bitte vorzuführen. Es folgte bedauerndes Achselzucken. Alle versprachen, sich für meine Sache einzusetzen. Was denn genau meine Sache sei, fragte ich. Ich wusste es nämlich nicht mehr. Aber die Herrschaften waren schon im Weggehen begriffen, sie drehten sich noch einmal um und winkten mir.
    Und dann wollte niemand mehr meine Geschichte hören.
    Ich war allein.
     
    Ich fürchtete, das Sprechen zu verlernen. Wenn ich auf der Straße ging, sah man mir nach. Aber man sprach mich nicht an. Auch nicht, wenn ich nickte. Man ging an mir vorüber. Dann drehte man sich um und sah mir nach. Aber während man an mir vorüberging, sah man mich nicht an. Man sah zu Boden.
    Ich begegnete einem Jungen, der hatte ein schmutziges Gesicht, in der Brusttasche seines Hemdes steckte eine Zigarette. Ich sagte: »Hallo!«
    Er sagte: »Hallo!«
    Ich sagte: »Du bist der erste, der zu mir hallo sagt.«
    Er blickte sich um, stieg auf die Zehenspitzen, als wolle er sehen, ob sich hinter mir einer versteckte, und sagte: »Der will ich nicht sein.«
    Und lief davon.
    Am nächsten Tag traf ich ihn wieder. Ich sagte: »Hallo!«
    Er sagte: »Hallo.«
    »Warum läufst du heute nicht weg?«, fragte ich.
    »So halt.«
    »Wie alt bist du?«
    »Neun Jahre und drei Monate.«
    »Fang auf!«
    Ich warf ihm ein Feuerzeug zu. Es war das letzte von denen, die ich aus Wien mitgebracht

Weitere Kostenlose Bücher