Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
ein wenig dicker aussehe als sonst, und dass sie bei der Karussellnummer mit Opa auf die Straße gefallen war, hatte mich eigentlich gewundert, denn sie war von Natur und Statur sehr gelenkig – zum Beispiel, wenn sie tanzte.
Apropos tanzen: Bevor wir uns zum Schlafen in die Decken eingewickelt hatten, haben wir getanzt und gesungen. Sogar Opa hat getanzt – mit mir, mit Mama, mit Papa, am längsten natürlich mit Moma. Sie haben sich nicht an der Taille gehalten, wie wir es getan haben, sondern am Gesicht. Moma hielt Opas Gesicht zwischen ihren Händen, Opa Momas Gesicht zwischen den seinen, und sie haben gesungen, und Mama, Papa und ich haben dazu den Rhythmus geklatscht.
Vögelein, Vögelein,
Trällerndes Vögelein,
Trage du mein Brieflein,
Trage du mein Brieflein
Nach dem Ungarlande heim.
Frag sie, wer wohl schickt es,
Sag ihr, jener schickt es,
Dem in seinem Schmerze
Bricht sein traurig Herze,
Ja, ganz sicher bricht es.
Wir legten uns unter der Weide nieder, und ich bat Opa, eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Er war aber zu müde, und Moma war auch zu müde und meine Mutter auch. Papa sagte, er würde gern erzählen; jetzt, wo wir im Westen seien, eine Wildwestgeschichte, eine amerikanische Wildwestgeschichte. Er war kein so effektvoller Erzähler wie Moma und Opa, seine Geschichte von Billy the Kid hörte sich eher wie ein Bericht an, wie eine längere Nachrichtenmeldung im Radio. Sie handelte von einem Jungen, der im Alter von zwölf Jahren seinen ersten Mord beging; er erschoss einen Mann, weil der seine Mutter beleidigt hatte. Daraufhin musste er fliehen und sich verstecken. Er beteiligte sich an Banküberfällen, ermordete noch ein gutes Dutzend weitere Männer und befreundete sich bis aufs Blut mit einem Mann namens Pat Garrett. Der aber wechselte bald die Seite. Er wurde Sheriff und verriet seinen Freund und beteiligte sich an der Hetzjagd gegen ihn. Am Ende sei Billy the Kid mit seiner Geliebten im Bett gelegen, da habe Pat Garrett die Tür eingetreten und ihn erschossen. Billy war erst einundzwanzig. Es sei, sagte mein Vater, ein unentschuldbarer Verrat gewesen. Damit die Amerikaner nie vergessen, dass man so etwas nicht tun darf, werde die Geschichte bis heute in den Staaten immer wieder erzählt.
Moma, Opa und auch meine Mutter waren über die Erzählung eingeschlafen. Und mein Vater schlief mit seinen letzten Worten ebenfalls ein.
Ich aber stand auf und ging in das Feld hinaus. Ich legte mich weit von den Meinen ins Gras und schaute in den Himmel. Hätte mir einer in Budapest davon erzählt, nie hätte ich ihm geglaubt, dass es so viele Sterne gibt. Es war Neumond und keine Wolke war am Himmel, und auf der Erde brannte kein Licht. Es sah prächtig aus, ohne Frage – dennoch konnte ich mich eine Zeitlang nicht gegen den Gedanken wehren, etwas weniger hätte es auch getan. Alles gab es im Überfluss, Gras, Bäume, Steine, Tiere, Haare und jetzt auch noch Sterne. Es konnte aber genauso gut sein, dass diese Tatsache begrüßenswert war. Andererseits waren das Gras, die Steine, die Tiere und die Sterne wahrscheinlich nicht da, damit wir sie als zu viel oder zu wenig oder gerade recht beurteilten. Ich spann den Gedanken nicht weiter, er spann sich in mir nicht weiter; er konnte es mit den Sternen nicht aufnehmen, zumal ich vermutete, dass ich längst nicht alle sehen konnte. Rechts und links von meinem Kopf ragten die Grashalme empor, ich sah sie aus den Augenwinkeln, sie waren dunkler als der Himmel, dessen Farbe zwischen den Sternen mir zu Anfang eindeutig schwarz, bald jedoch undefinierbar zu sein schien. An ihren Spitzen leuchtete ein winziger Punkt, als ob sich am Ende jedes Halms ein Stern spiegelte. Später warf ich mir vor, dass ich mir unter diesem exorbitant ausgestirnten Himmelszelt nicht Gedanken über mein Leben gemacht hatte, dass ich mir nicht einmal die Frage gestellt hatte: Was wird wohl aus mir werden? Aus einer Antwort hätte sich womöglich ein Leitfaden ziehen lassen. Sicher, man kann diese Frage jederzeit stellen, am helllichten Tag, im Bus, sogar auf dem Klo; aber ich denke, man bekommt nicht in jeder Situation eine brauchbare Antwort. Ebenso wie man es verabsäumt, am Sterbebett eines Freundes denselben zu bitten, er möge einem nach dem Tod eine Nachricht zukommen lassen. Warum fällt das niemandem ein? Dann wäre doch eindeutig bewiesen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Wenn es eines gäbe, wäre es zum Beispiel nur halb so schlimm, ein Mörder zu sein.
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