Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Man trifft sich drüben mit den Erschossenen und redet die Sache aus. Ich sah eine Sternschnuppe, die erste in meinem Leben. Die Tatsache, dass die Sterne nicht für uns da waren, machte sie mir noch erhabener. Mit den Gräsern am Rand meines Blickfeldes verhielt es sich nicht anders. Die Erde kühlte meinen Rücken, sie roch anders als am Tag; aus der riesigen, mit Gold und Silber bepunkteten Halle über ihr war nichts zu vernehmen.
Am nächsten Tag sind wir von der Gendarmerie aufgegabelt worden – von zwei schlecht gelaunten Männern, die erst gar nicht von ihren Fahrrädern abstiegen, warum auch. Die haben uns vor sich hergetrieben zu einer Einheit des Bundesheeres und uns dem Offizier übergeben, einem allerdings überaus freundlichen Herrn, der als erstes die beiden darauf aufmerksam machte, dass es sich bei uns um Menschen und nicht um Vieh handle. Wir erzählten ihm unsere Geschichte, er teilte Wurst, Brot und Bier mit uns, ermahnte seine Untergebenen, höflich zu uns zu sein, und lud uns ein, in einem ihrer Mannschaftswagen im Konvoi mit nach Wien zu fahren. Eigentlich sei das Mitnehmen von Zivilisten verboten, aber in unserem Fall pfeife er auf die Vorschriften, sagte er.
So kamen wir an einem heiteren Frühsommertag in Wien an.
»Die Wirklichkeit« – so pflegte ich dreißig Jahre später meine Vorlesungen zu beginnen – »ist ein endloses Gewebe von Sinnhaftem und Sinnfremdem; ersteres adeln wir mit dem einsamen Begriff Wahrheit, für letzteres haben wir unzählige Worte zur Verfügung.« Das habe ich irgendwo abgekupfert. Ebenso wie diese Einsicht: »Alles, was Erinnerung ist, gerät unter das Regime der narrativen Transformation.« Diese beiden Sentenzen waren es übrigens, die mich den Damen und Herren, die in einem fernen, fernen Land über die ausreichende Macht dazu verfügten, für einen Lehrstuhl empfahlen.
ZWEITES KAPITEL
1
Die Soldaten fuhren – uns zuliebe! – auf der Ringstraße einmal um die Innere Stadt herum und setzten uns schließlich, als wären wir ein Staatsbesuch, vor dem Hotel Imperial ab. Der Leutnant, dieser kurze, wuchtige Mann mit den weit auseinander stehenden Zähnen und dem Strahlenkranz von Lachfalten – ich könnte sein Gesicht heute noch auf Papier nachzeichnen – drückte jedem von uns zum Abschied die Hand, legte die zweite darüber und sagte, er wünsche sich, dass in diesem Hotel, das weltweit Adolf Hitlers Lieblingshotel gewesen sei, in realistischer Zukunft eine Suite für uns bereitstehe; und verriet uns, er selbst habe ungarische Vorfahren; die Österreicher seien im Grunde patente Menschen, sie würden nach einer Eingewöhnungszeit bestimmt sehr freundlich zu uns sein. – Falls nicht? Bei welcher Macht würden wir uns beschweren können? Seine Adresse gab er uns nicht. Wir haben auch nicht danach gefragt. Das aber sei ein Fehler gewesen, sagte meine Mutter, als die Militärkolonne davonfuhr.
Da entgegnete ihr Moma, feierlich wie bei einer Geburtstagsrede: »Wir brauchen ihn nicht. Wir haben unseren Herrn Dr. Martin.«
Die Stadt war mir vom ersten Spaziergang an vertraut; als hätten wir lediglich eine Runde um Budapest herum gedreht und wären auf der anderen Seite wieder eingezogen – nun minus Kommunismus. Wir schlenderten unter den Bäumen über die Ringstraße, unsere Bündel auf dem Rücken, die Rucksäcke und die Decken, die Koffer in der Hand, Papa zudem Opas Koffer, vorbei an der schwarzen Oper, vorbei am Goethedenkmal mit den Grünspantränen – wie mir das gefiel! Schmutzig waren wir, Opa und Papa unrasiert, Moma und Mama ungeschminkt; unsere Schuhe waren verdreckt, die Kleider voller Grasflecken und zerknittert von der vorangegangenen Nacht auf dem Feld, wo wir so formidabel geschlafen und in unseren Träumen weitergesungen hatten (ich habe Mama und Moma summen hören). Nicht einmal die Zähne hatten wir uns geputzt – wie denn, wo denn? Wir setzten Opa auf eine Bank in dem Park zwischen den spiegelverkehrten Zwillingen des Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museums, gleich neben die Kaiserin Maria Theresia auf ihrem hohen Sockel aus grauem poliertem Stein. Mein Vater wollte ihm Gesellschaft leisten, während sich Moma gemeinsam mit mir und Mama um unsere Zukunft kümmerte – wenigstens um unsere nähere Zukunft; für die weitere, sagte sie, würden die Freiheit des Westens und das Schweizer Bankwesen Sorge tragen. Opa und Papa unterhielten sich gern über medizinische Dinge, das heißt, der eine dozierte, der
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