Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
weißt du?«
»Weiß nicht.«
»Glaubst du, wir meinen es böse mit dir?«
»Nein.«
»Glaubst du, wir meinen es gut mit dir?«
»Ja.«
»Erinnerst du dich an unser erstes Gespräch?«
»Ja.«
»Du hast uns vom Gesicht deiner Großmutter erzählt.«
»Weiß nicht.«
»Dass es voll Hass gewesen war.«
»Weiß nicht.«
»Voll Hass auf deinen Opa.«
»Weiß nicht.«
»Erinnerst du dich nicht?«
»Nein.«
»Sollen wir dir das Tonband vorspielen?«
»Nein.«
»Du erinnerst dich also?«
»Ja.«
»Ist es dir unangenehm, darüber zu sprechen?«
»Ja.«
»Weil du dich schämst?«
»Ja.«
»Warum schämst du dich?«
»Weiß nicht.«
»Weil du etwas Böses über deine Großmutter sagen könntest?«
»Ja.«
»Was könnte das Böse sein, das du über deine Großmutter sagst?«
»Weiß nicht.«
»Bist du sicher, dass sie deinem Opa nicht vielleicht doch eine dritte Spritze gegeben hat?«
»Weiß nicht.«
»Immer, wenn du ›Weiß nicht‹ sagst, wissen wir, dass du es weißt.«
Sie beabsichtigten, mich einem Arzt vorzuführen, der meinen Körper untersuchen, und einem anderen Arzt, der sich über meinen Geist hermachen sollte. Ich schrie (gespielt) – was ganz falsch war, denn das ließ sie noch neugieriger werden; ich weinte (gespielt) und steigerte damit nur ihre Begeisterung, es hier endlich nicht wie üblich mit heldenhaften Opfern, sondern mit feigen Tätern zu tun zu haben – wenigstens einer feigen Täterin, meiner Moma. Verknallt waren sie in meine Moma.
»Weißt du, was ÁVH heißt?«
»Ja.«
»Was denn?«
»Államvédelmi Hatóság.«
»Und weißt du, was das ist?«
»Die Geheimpolizei.«
»Hat deine Oma mit der ÁVH zu tun gehabt?«
»Ja.«
»Und dein Opa?«
»Ja.«
»Waren Beamte der ÁVH bei euch zu Hause gewesen?«
»Ja.«
»Öfter?«
»Ja.«
»Mehr als einmal?«
»Ja.«
»Mehr als zweimal?«
»Ja.«
»Mehr als dreimal?«
»Ja.«
»Und waren sie freundlich gewesen?«
»Ja.«
»Haben sie etwas mitgebracht?«
»Ja.«
»Was haben sie mitgebracht?«
»Gute Sachen zum Essen. Aber sie waren nur deshalb freundlich, weil sie …«
»Aber sie waren freundlich?«
»Aber nur deshalb, weil sie …«
»Aber freundlich.«
»Ja.«
»Sehr freundlich?«
»Ja.«
»Du kannst akzentfrei Deutsch.«
»Ja.«
»Hat dir das deine Großmutter beigebracht?«
»Ja.«
Ein Verhör kann für den Verhörten etwas sehr Angenehmes sein. Man verfällt in eine Vorstufe von Müdigkeit, die nicht auf Schlaf, eher auf Glückseligkeit zielt; der Unterkiefer senkt sich herab, der Speichel rinnt, die Lider werden schwer; der Rhythmus von Frage und Antwort versetzt einen in einen tranceähnlichen Zustand, die Aufmerksamkeit lässt nach – vorausgesetzt, der Rhythmus wird nicht aufgehalten. Die einsilbigen Antworten fühlen sich an, als würden sie sich selbst geben, als wären sie in Gummi eingepackt und hüpften von allein aus dem Mund. Und wenn sich ein längerer gedanklicher Zusammenhang in eine Antwort drängt und droht, den Rhythmus zu stören, lässt man sich gern das Wort abschneiden und ist froh, wenn das einsilbige Hin und Her weitergeht. Dieser Zustand kann eine Stunde lang andauern oder länger. Wenn er beendet wird, kehrt der Verstand mit einer Klarheit zurück, die schmerzt.
Als mir bewusst wurde, dass diese beiden albernen selbsternannten Staatsanwälte des Jüngsten Gerichtshofs meine Moma nicht nur verdächtigten, mich und meine Mutter zu misshandeln und meinen Vater zu erpressen, sondern auch der Spionage und sogar des Mordes an Opa – der ja noch lebte, nicht fröhlich lebte, aber lebte; dass unsere Flucht aus Ungarn von dieser kommunistischen Hexe nur inszeniert worden war, um ihre eigenen bösen Taten zu verschleiern und womöglich die echten heldenhaften Flüchtlinge auszuspionieren; dass wir also gar nicht abgehauen waren, weil uns das Regime etwas Böses angetan hatte, sondern im Gegenteil, dass wir selbst auf der Seite jener standen, die in Kellern folterten und vergewaltigten; als mir bewusst wurde, dass nicht ich es war, der die beiden führte, indem er ihnen folgte, sondern dass sie mich vor sich hertrieben und ich mich treiben ließ, begann ich zu weinen. Das war nicht mehr gespielt. Ich weinte bitterlich, und nichts konnte mich beruhigen. Ich fühlte mich wie Judas Iskariot, und für einen Augenblick glaubte ich, ich sei Judas Iskariot und in dem muffigen Büro mit dem Ausblick auf die Türme der Votivkirche finde tatsächlich das Jüngste
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