Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
sie wette, der Gendarm telefoniere gerade mit seiner übergeordneten Dienststelle, wir bräuchten uns nur ein wenig zu gedulden, gleich würde jemand kommen und uns nach Wien bringen. In Wien hatte Moma Verbindungen zu Kolleginnen und Kollegen, im Speziellen zu einem Wissenschaftler namens Dr. Hans Martin, der ihr Buch über den Pharao Echnaton »in einem Maße bewundere, das an Götzendienst grenzt«, und ihr erst vor wenigen Monaten seine eigene Dissertation über Echnatons Hauptfrau Nofretete mit eben dieser Widmung nach Budapest geschickt hatte, zusammen mit einem Brief, in dem er – wie Moma urteilte, »völlig unzweideutig« – schrieb, was für ein Gewinn es für ihn und die altägyptische Wissenschaft bedeuten würde, wenn Frau Professor Dr. Helena Fülöp-Ortmann irgendwann ihre Vorlesungen an der Universität Wien halten könnte, und dass er und seine Kollegen alles daransetzten, um sich diesen Wunsch zu erfüllen. Sicher arbeite sie an einem neuen Buch. Alle seien sehr gespannt darauf. Viel zu lange habe sie geschwiegen. Wenn sie einen Gesprächspartner benötige, er würde sich glücklich schätzen. Nichts wünsche er sich mehr, als ihr zuzuhören. – Den Brief und das Buch mit der Widmung hatte Moma in ihr Fluchtgepäck gepackt – »unser Familiensilber«.
Der Gendarm ließ sich nicht blicken, und als Moma wieder an seine Tür klopfte, bekam sie keine Antwort; vielleicht hatte er sich durch eine Hintertür davongemacht, vielleicht hockte er an seinem Schreibtisch und drückte die Daumen in die Ohren. Wir waren für ihn – ich habe genau gehört, dass er sich so ausdrückte – Zigeunergesindel. Komisches Zigeunergesindel wir – Moma blond, Mama blond, mein Vater brünett, Opa weiß und ich braun mit einem Stich ins Rötliche. Ich jedenfalls stellte mir Zigeuner anders vor.
Wir schulterten unsere Bündel, hängten uns an unsere Koffer und gingen in den Abend hinein und taten so, als würden wir zu Fuß und querfeldein direkt nach Wien ins Paradies spazieren.
Das Problem war natürlich Opa. Erstens hatte er immer noch einen leichten Dusel wegen der Spritzen – ich glaube, Moma hat ihm tatsächlich eine dritte verpasst; zweitens eben das Gehen. Er litt unter Lungenproblemen als Folge der Folter. Außerdem hatten sie auf der Suche nach der Gallenblase von Genosse Rákosi ein Loch in eine seiner Kniescheiben gebohrt, und das spürte er immer noch. Er schreckte sich auch leicht. Wenn ein Rebhuhn aus dem Schilf aufflatterte oder ein Marder ins Unterholz huschte, dann raste sein Puls, und der Blutdruck schoss bis unters Juchhe, und er musste sich kurz hinsetzen oder hinlegen. Das musste er auch ohne Schrecken zwischendurch, eben weil er einen Dusel hatte und erschöpft war, als wäre er am Ende des Lebens angekommen, wo wir doch nur am Ende der Welt waren.
Die Nacht verbrachten wir im Freien auf dem Feld. Es war warm, wir hatten Decken dabei und zündeten ein Feuer wegen der Mücken an und hatten Spaß miteinander. Keine Rede davon, dass Opa böse auf Moma war! Sie erklärte ihm das mit den Spritzen, und er sah es ein. Auch keine Rede davon, dass unsere Familie nicht mehr funktionierte! Moma deckte Opa zu, wickelte ihn ein, ihre eigene Decke rollte sie zusammen und schob sie ihm unter den Kopf. Dafür schlüpfte sie zu mir unter die Decke. Ich lag mit Moma zusammen, neben uns lag Opa wie eine große helle Wurst, und über uns war der Sternenhimmel. Papa hat Witze erzählt. Und das Beste war wieder, dass er selber nicht ein einziges Mal dabei lachte. Er lächelte sein schüchternes Lächeln. Auch Moma sagte: »Wir sind froh, dass wir dich haben.« Meine Mutter saß hinter ihm, den Rücken am Stamm einer Weide. Sie trug ein dünnes Sommerkleid zum vorne Durchknöpfen. Sie legte ihre bloßen Füße auf seinen Rücken und kraulte ihn mit den Zehen. Moma hatte ausreichend Zigaretten mitgenommen, Gott sei Dank, das war ihr das Wichtigste. Ich durfte auch ein paar Mal ziehen. Wir lagen und pafften in die Äste der Weide hinauf – wie die Zigeuner in der Operette, insofern hatte der Gendarm recht gehabt. Moma hatte sich ihr Unterkleid mit Geld ausgepolstert. Als ich sie vor dem Einschlafen umarmte, merkte ich, dass sie um die Hüfte irgendwie komisch hart war. Ich bin in der Nacht aufgewacht – wie jede Nacht, nachdem mich meine Tiere besucht hatten – und habe ihr Hemd hochgezogen und einen Panzer aus Forintscheinen und anderen Papieren gesehen. Ich hatte mir schon vor unserer Abreise gedacht, dass sie
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