Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Gericht statt und die beiden seien Erzengel, die mich gleich in die Hölle befördern würden, wo Major György Hajós und Oberst Miklós Bakonyi mit mir das Gleiche anstellten, was sie mit Opa, und Janko Kollár, Lajos Szánthó und Zsolt Dankó das Gleiche, was sie mit Moma angestellt hatten. Ich wollte auf der Stelle in den nächsten Zug steigen und wegfahren, am liebsten zurück nach Budapest, und dort in die Báthory utca laufen zur Nummer 23 und hinauf in den 2. Stock zur Wohnung Nummer 7 und aus Blumenerde Straßen bauen und mir ein Volk aus Kopfkissenknöpfen schaffen und mir meinen Königsmantel umlegen – dieser Weg war eisern verriegelt, in Raum und Zeit.
Fazit: Im Alter von sechs Jahren hatte ich im Kampf gegen zwei mit allen Wassern aus den Quellen unmenschlicher Einbildungskraft gewaschenen ÁVH-Agenten das erste Gebot meines Lügendekalogs gefunden, hatte es auf Anhieb begriffen und tadellos eingesetzt; und anderthalb Jahre später habe ich vor zwei philanthropischen Karikaturen die Kontrolle über dieses Gesetz verloren: Ich habe es angewandt, ohne zu bedenken, dass sein Zweck immer sein muss, die Genasweisten auf meine Ziele hin zu lenken, also: sie zu beherrschen . Ich habe ein Spiel daraus gemacht. Das war mir unverzeihlich.
Es dauerte fast zehn Jahre, bis ich mich wieder an dieses erste Gebot wagte – dann war es kein Spiel mehr, sondern überlebensnotwendige Taktik.
10
Um mich wieder der Chronologie meiner Erzählung unterzuordnen: Wir waren zu früh geflohen. Das war unser Pech gewesen. Ein halbes Jahr zu früh! Im Juni 1956 interessierte sich in Österreich noch niemand für die armen Nachbarn im Osten; niemand klopfte dir auf die Schulter, wenn du die Verbrechen der ÁVH oder ÁVO angeprangert hast; niemand nahm dich in den Arm, wenn du erzählt hast, du seiest eines ihrer Opfer gewesen. – Wenige Tage vor unserer Flucht war in der New York Times die Rede von Nikita Chruschtschow abgedruckt worden, die er am XX. Parteitag der KPdSU gehalten und worin er Stalin einen Wahnsinnigen und einen Massenmörder genannt hatte, der sich auf durch und durch unmarxistische Weise habe vergöttern lassen.
Als wir in Burgenland ankamen, hat uns niemand freundlich empfangen; keine Journalisten richteten von Hochständen aus ihre Teleobjektive auf uns, kein Rotes Kreuz versorgte uns mit heißem Tee und Speckbroten. Wir irrten durch das mannshohe Schilf, gerieten in sumpfiges Gelände, gingen im Kreis und drehten uns im Kreis; wussten nicht, ob wir bereits in Österreich oder schon wieder in Ungarn waren. Alle halben Stunden mussten wir rasten, weil Opa nicht mehr weiterkonnte. Mein Vater nahm mich auf die Schultern, damit ich über die Schilfrohre hinweg sähe, ob irgendwo ein Haus sei oder ein Fuhrwerk. Ein Bauer und seine Frau waren so freundlich, uns ins Dorf mitzunehmen – sie mussten »eh grad hin«. Wir saßen auf einem Anhänger mit Gummireifen, und ein Brauner zog, Mann und Frau gingen daneben her. Wir erzählten ihnen, dass wir aus Ungarn geflohen seien; das interessierte sie nicht. Der Mann nahm die Zigarette, die ihm Moma anbot, und steckte sie sich an den Hut. Vor dem Gemeindeamt setzten sie uns ab. Der Gendarm hat uns nicht geglaubt. Warum bleibt einer, wenn’s schlecht ist, und flieht, wenn’s besser wird? Überall sind Wunden geschlagen worden, in Österreich auch – überschreitet deswegen ein Österreicher bei Nacht und Nebel die Grenze nach Ungarn? Abgesehen davon, dass es weder Nacht noch Nebel war, als wir in Österreich ankamen, sondern ein sonniger Sommernachmittag, hatte der Mann natürlich nicht die geringste Ahnung, wie die Menschen nur wenige Kilometer von ihm entfernt lebten. Und er wollte es auch nicht wissen. Wir waren zu früh gekommen. Das war unser Pech. (Ein halbes Jahr später hat sich derselbe Gendarm höchstes Lob verdient; ein Bild in den Zeitungen zeigte, wie er eine Medaille aus der dicken Hand von Bundeskanzler Julius Raab entgegennimmt: für sein vorbildliches menschliches Verhalten, ein Held. Moma breitete die Zeitung vor uns aus. »Den kennen wir«, sagte sie, mehr nicht.) Moma empörte sich so lautstark über seine mangelnde Hilfsbereitschaft, dass er uns aus der Wachstube wies – allerdings ohne zu uns zu sagen, wohin wir gehen sollten.
Wir warteten auf der Straße, saßen auf unseren Koffern und ließen uns von den Leuten, die auf ihren Fahrrädern vorbeifuhren, anglotzen. Sie kamen mir vor wie dressierte Affen in Hemd und Hose. Moma sagte,
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