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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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andere hörte zu; aber weil Papa dabei so aufmerksam zuhörte, sagte mein Großvater hinterher immer, sie hätten sich prächtig unterhalten, obwohl mein Vater wahrscheinlich nicht ein Wort beigetragen hatte. Moma gab ihm ein Büschel von den Forint, die sie über ihrem Magen trug; er solle versuchen, sie bei einer Bank in Schilling umzutauschen (der Wechselkurs für den Forint sei »zum Sich-am-Fensterkreuz-Aufhängen« – wörtlich Moma), und Coca-Cola und Wurstsemmeln davon kaufen, so viel wie möglich.
    Wir anderen ließen unser Gepäck zurück und gingen weiter – vorbei am Justizpalast, am Parlament, am Rathaus, das mir wie ein riesiger Vogel mit spitzem Kopf und ausgebreiteten Flügeln vorkam, vorbei an der Universität und der Votivkirche (Moma kannte sich prima aus!), hinein in den 9. Bezirk zur Frankgasse Nummer 1, nämlich zum Ägyptologischen Institut, wo sich Moma bei der Sekretärin erkundigte, ob Herr Dr. Hans Martin im Haus sei, und wenn nicht, wie man ihn erreichen könne.
    Nachdem uns die Sekretärin allein gelassen hatte, fragte meine Mutter, warum sich Moma nicht vorgestellt habe; sie habe geglaubt, Frau Professor Dr. Helena Fülöp-Ortmann sei eine Berühmtheit in ihrem Fach; wo sonst, wenn nicht hier, könne aus dieser Art von Berühmtheit Kapital geschlagen werden … – Wir waren erschöpft und von der Junisonne überhitzt und hatten erst wenig von der Freiheit des Westens mitgekriegt; die Freundlichkeit des ungarnstämmigen Bundesheersoldaten war aufgebraucht; Moma und Mama waren gereizt; und alle drei hätten wir gern etwas Deftiges im Magen gehabt – dennoch überraschte mich der streitsüchtige Ton in Mamas Stimme. Und ihr bitterer Mund. Ich rechnete damit, dass Moma mit einer gepfefferten Zurechtweisung reagieren würde, wie sie es schon bei geringeren Anlässen getan hatte, oft in böse herabsetzender Weise. Zum ersten Mal sah ich sie unsicher, ängstlich, verzagt, ertappt, entwaffnet – das soll keine Aufzählung des Gleichen sein, sondern beschreibt die Stufen hinab zur Kapitulation. Wenn ich darüber nachdenke, wann Momas Macht über meine Mutter eingeknickt war, fällt mir diese Szene ein: Mama in ihrem dünnen, grünlich hellen Mantel, den sie sich mit einem Gürtel eng um die Taille gebunden hatte, der hohe, blonde Rossschwanz, die Lippen trompetenhaft geschürzt, die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten geballt (was sie von ihrem Mann abgeschaut hatte). Sie führte einen Feldzug.
    Ich sagte schnell: »Moma will halt nicht angeben.« Und hatte damit Partei ergriffen – was mir meine Mutter mit einem Naserümpfen quittierte.
    » Ich an ihrer Stelle würde angeben«, stichelte sie weiter. »Wenn es etwas anzugeben gibt, warum bitte soll man dann nicht angeben? Vor allem, wenn es sich auszahlt, und zwar für uns alle.«
    »Angeben tut, wer nichts zum Angeben hat«, hielt ich dagegen. Meine Neunmalklugheit war bei meiner Mutter nie gut angekommen; sie war ihr unerklärlich, weil sie sich nie ernsthaft um meine Erziehung gekümmert hatte und sich naturgegebene Intelligenz nicht vorstellen konnte und folglich Einflüsse vermutete, die ihrer Aufmerksamkeit entgangen waren und ihr unheimlich und unappetitlich erschienen.
    »Willst du Rechtsanwalt werden?«, fuhr sie mich an. Eine treffende Antwort wäre gewesen: Nein, Richter. Moma mischte sich nicht ein. Das nahm mir den Mut. In einem Handstreich hatte meine Mutter uns beide besiegt. Sie sagte, was sie gesagt hatte, als sie und ich in dem Laster an der Ecke Báthory utca/Bajcsy Zsilinszky út gewartet und meinem Vater zugesehen hatten, wie er Opa hochhob und mit ihm Kreise über die Straße zog: »Wäre das nicht anders gegangen!«
     
    Die Sekretärin kam in Begleitung eines hochgewachsenen Mannes mit langen dunklen Stirnhaaren, die er sich aus dem Gesicht strich, ehe er seine Hand ausstreckte; eigentlich zwischen uns hineinstreckte, gleichsam zur allgemeinen Verwendung, so dass es uns überlassen blieb, wer sie als erster ergriff. Seinen Namen nannte er, mit Titel – Dr. Hans Martin –, und fragte, was er für uns tun könne. Ich nahm seine Hand – ich tat es, um Moma abermals aus ihrer Verlegenheit zu retten. Denn so viel wusste ich: Das Handausstrecken wäre ihr Privileg gewesen.
    »Ich bin Helena Fülöp-Ortmann«, sagte sie, zeigte, ohne eine Pause zu lassen, auf mich und meine Mutter. »Er ist mein Enkel, sie meine Tochter. Mein Mann und mein Schwiegersohn warten im Park zwischen den Museen. Wir sind hungrig und

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