Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
Figur aus der Taufe hob, die Patienten aus, und spielte er, wie Watson, gern Billard), führt vom Wesentlichen weg. Zudem ist wenig wahrscheinlich, daß ein Autor sich in einer Figur in sein Werk einführt, die beim Leser oft nachsichtiges Lächeln hervorruft.
Wichtig ist weniger die ›Herkunft‹ Watsons als sein Sitz in der literarischen und sozialen Realität der Geschichten. Und in bezug darauf ist das Bestreben Doyles unverkennbar, Holmes in Watson einen Menschen an die Seite zu stellen, der das geistige Mittelmaß nicht übersteigt, dadurch Holmes um so kräftiger in seiner Außergewöhn lichkeit konturiert und gleichzeitig dem Durchschnittsleser die Möglichkeit bietet, sich über den Arzt, Helfer und Biographen dem schier übermenschlichen Detektiv zu nähern. Hier kommt Watson eine Brückenfunktion zu.
Führt es auch nicht weit, nach ›Vorbildern‹ von Holmes und Watson zu suchen, so ist es doch legitim, danach zu forschen, wie sie mit dem Autor verwandt sind. Bei Watson bietet sich sofort neben dessen Beruf auch die schriftstellerische Neigung an, derentwegen er von Holmes wiederholt gescholten wird, weil auf diese Weise die bedeutenden Ideen und ihre merkwürdigen Ausführungen im trüben Strom der Belletristik zu versinken drohen. Holmes hingegen ist auf weniger vordergründige und komplexere Art seinem Schöpfer ähnlich. Doyle hat offensichtlich versucht, in ihm sein Ideal vom Gentleman literarisch zu verwirklichen, das Ideal von dem im Interesse der Allgemeinheit handelnden, dem Gedanken des Erhaltens und Verbesserns von Bestehendem eher als der Veränderung zugeneigten Menschen, der es als seine vornehmste Pflicht ansieht – und aus ihr einen Beruf macht –, Ratlosen beizustehen und Notleidenden zu helfen. Dieser Helfer und Beschützer, der gleichzeitig von staatlichen oder munizipalen Instanzen unabhängig, also Herr seiner Entschlüsse und frei ist, seine Fähigkeiten und seine Vorstellungen vom Recht dort wirksam werden zu lassen, wo er es für richtig hält, fand zu Ende des vorigen Jahrhunderts eine seiner idealen literarischen Verkörperungen im Detektivberuf, von dem Robert Louis Stevenson in seiner Erzählung ›Der Dynamitverbrecher‹ (›The Dynamiter‹) schrieb, es sei die einzige Beschäftigung für einen Gentleman. Den solchermaßen verbürgerlichten Kavalier setzte Doyle deutlich vom landläufigen Typ des Polizisten ab, vor allem indem er diesen – wohl der gängigen Meinung folgend – als beschränkt, plump und vorurteilsbesessen vorstellte, und stattete ihn mit allem aus, was ihm zu einem allseitig entwickelten Menschen zu gehören schien und was er an sich selber zu entwickeln suchte. Das betrifft vor allem sein Bestreben, sich mit vielen Bereichen der Wissenschaft vertraut zu machen, und dies nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern vornehmlich in der Anwendung des Wissens, das ihn in die Lage versetzte – wie es in der Erzählung ›Die fünf Apfelsinenkerne‹ heißt – aus einem einzigen Knochen auf das ganze Tier zu schließen. Als Pendant dazu kam eine schweifende gleichwohl disziplinierte Phantasie, die jederzeit vom Denken in die Pflicht genommen werden konnte. Systematik als Voraussetzung für die Anwendbarkeit des vielfältigen Wissens und die Archivierung von Kenntnissen als Hilfsmittel – letzteres besonders wird von Freunden und Biographen als charakteristisch auch für des Autors Arbeitsweise hervorgehoben – runden das Bild vom ›Geistesriesen‹ Sherlock Holmes ab, von dem Watson in ›Die Liga der rothaarigen Männer‹ ehrfürchtig und auch ein wenig erschrocken sagt, sein Wissen sei nicht mit dem anderer Menschen zu vergleichen.
Hinzu tritt absolute körperliche Fitness, um auch in prekären Situationen bestehen zu können – auch sie ein Charakteristikum des Gentleman in Doyles Verständnis und ein Ziel, das er bis ins Alter anstrebte (in jüngeren Jahren war er berühmt als Kricket-Spieler und als Boxer, und er wurde – wie auch sein Holmes – nicht müde, den Amateursport als eine wichtige Kraftquelle der Nation zu preisen, was ihm die ehrenvolle Funktion eintrug, die britische Mannschaft zu den für 1916 in Berlin geplanten und dann dem Krieg zum Opfer gefallenen Olympischen Spielen anzuführen). Weiterhin wurden Holmes aufs äußerste geschärfte Sinne beigegeben, was ihn beim Verfolgen einer Spur manchmal wie ein instinktgesteuertes Wesen erscheinen läßt, und natürlich Verständnis und Interesse gegenüber der Kunst, die
Weitere Kostenlose Bücher