Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
gegenüber, er ziehe Dupin allemal Lecoq vor (›Lecoq war ein Stümper. Dupin war besser‹, schrieb Doyle lapidar in einer Skizze zu dem Roman). Und in der Tat ist Holmes eher Dupin verwandt als Lecoq oder Père Tabaret, die – und das macht einen großen Teil des Reizes aus, der von ihnen ausgeht – nicht immer ›den geraden Weg zur Wahrheit‹ einschlagen und deren Neigung zu Irrtümern und Fehlschlüssen dem Poe-Schüler Doyle fatal vorkommen mußte. Immerhin kann jedoch fast mit Sicherheit ange nommen werden, daß die kriminologische Kleinarbeit, der sich Holmes trotz aller Genialität im Schlußfolgern geduldig hingibt, durch Gaboriaus Romane zumindest angeregt worden ist. Denn nach dessen erstem Beitrag zum Genre, ›Der Fall Lerouge‹ (›L’affaire Lerouge‹, 1866), der mit detaillierten Schilderungen polizeilicher Untersuchungsmethoden aufwartet, hätte ein Anknüpfen an die eher romantischen und mehr oder weniger vom Zufall bestimmten Wege der Aufklärung, wie sie von Collins und Mrs. Green bevorzugt wurden, einen Rückfall auch hinter die Kriminaltechnik der Zeit bedeutet, die vor allem durch das anthropometrische System Bertillons zur Identifizierung von Verbrechern und die Anfänge der Daktyloskopie einen bemerkenswerten Aufschwung erlebte.
Es ist seit den Anfängen der ›Holmesologie‹ eine beliebte und stets aufs neue aufgeworfene Frage, welche realen Persönlichkeiten neben den literarischen Vorbildern das Modell für den Meisterdetektiv und seinen Begleiter Watson abgegeben haben könnten. Doyle selbst hat auf Dr. Joseph Bell hingewiesen, einen Chirurgen am Edinburgher Hospital, den er in seinen Studienjahren kennengelernt hatte. Dieser Dr. Bell war bekannt für seine scharfen Beobachtungen und Schlußfolgerungen, mit denen er seine Patienten, deren Berufe er erriet, verblüffte. Und in der Tat erinnern seine Methoden, mit denen er zum Beispiel einen Mann als Pflasterer dadurch identifizierte, daß nur eines seiner Hosenbeine an der Innenseite des Knies abgeschabt war, oder einen kurz zuvor aus der Armee entlassenen Soldaten dadurch, daß dieser den Hut beim Betreten des Zimmers nicht abnahm, sehr stark an die Sherlock Holmes’, der es sich in mehreren Fällen angelegen sein läßt, anhand von Gegenständen – einem Hut oder einem Pincenez – die Eigenheiten ihrer Besitzer zu rekonstruieren, und der Watson immer wieder damit in Erstaunen versetzt, daß er dessen Gedanken oder Absichten oder vorausgegangene Handlungen an kaum auffallenden Kleinigkeiten abliest. Doch damit endet bereits die Verwandtschaft von Holmes mit dem Edinburgher Arzt, und dieser hat denn auch zu Recht Doyles Verweis auf ihn mit der Bemerkung beantwortet, der Schriftsteller schulde ihm in bezug auf Charakter und Konstruktion seines Helden weniger, als er annehme. Als weiteres mögliches Vorbild wurde George Budd ermittelt, ein Mediziner, den Doyle im letzten Studienjahr kennenlernte und mit dem er sich nach Beendigung des Studiums für kurze Zeit in einer Arztpraxis assoziierte. Budd war ein sportlicher Mann, dazu unternehmungslustig, flink im Auffassen von Ideen und im Erkennen und Analysieren von Situationen und hätte auch mit seiner Zähigkeit und Energie, die er in allem, was er unternahm, an den Tag legte, Pate bei der Holmes-Figur gestanden haben können. Doch bleibt solche Spekulation wie alle, die von ›Holmesologen‹ angestellt worden sind, unfruchtbar, weil aufs Anekdotische beschränkt. Mit Sicherheit ist nur festzustellen, daß Doyle den Namen seines Detektivs dem 1894 gestorbenen amerikanischen Lyriker und Essayisten Oliver Wendell Holmes verdankt, den er sehr verehrte. Der Vorname ›Sherlock‹ ist möglicherweise eine Anspielung auf den Ort Sherlockstown in dem Teil Irlands, aus dem Doyles Vorfahren stammten.
Ähnlich müßig sind die Vermutungen über die Herkunft der Figur Watsons, des Arztes, der längere Zeit Militärdienst in Asien geleistet hat, ehe er sich zum Praktizieren in London niederläßt. Hier schwanken die Annahmen, wer Vorbild gewesen sein könnte, vor allem zwischen Doyles Berufskollegen James Watson, der gleich ihm um 1890 Mitglied der ›Literary and Scientific Society‹ in Portsmouth war, und Major Wood, einem guten Freund Doyles, der sein Sekretär wurde und den er wegen seines offenen, geradlinigen Charakters sehr schätzte. Auch die Vermutung, daß Conan Doyle mit Dr. Watson ein Selbstporträt angefertigt habe (immerhin blieben auch ihm zu der Zeit, als er die
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