Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
sich in gelegentlichen Urteilen zur Literatur und Malerei, besonders aber in aktivem und passivem Genuß von Musik ausdrückt. Achtung vor dem Gesetz, das er übrigens einigemal übertritt, wenn es darum geht, durch einen Einbruch in den Besitz von Beweismitteln zu kommen, ist für Holmes selbstverständlich; dennoch wird ihm das Auseinanderklaffen von Gesetz und Recht manchmal bewußt, und wenngleich er Watson kategorisch erklärt: ›Ich gebrauche meinen Kopf, nicht mein Herz‹ (›Der berühmte Klient‹), folgt er in einigen Fällen eher dem Zug des Herzens und rettet aus christlichen Erwägungen den Schuldigen vor dem Gesetz.
Der Gefahr, daß angesichts dieser untadeligen Erscheinung eines Gentleman, durch das Idealty pische, fast Erzengelhafte das Desinteresse des Lesers an der Person Sherlock Holmes’ hervorgerufen werden könnte, begegnet Doyle mit Geschick, indem er ihn mit einigen Extravaganzen ausstattet, die ihn gelegentlich in die Nähe der Bohème rücken. Holmes hebt sich von der bürgerlichen Durchschnittsexistenz deutlich ab: Er arbeitet unregelmäßig, verträumt ganze Tage, bewahrt seinen Pfeifentabak in einem persischen Pantoffel auf, seine Zigarren in der Kohlenschütte etc., er ist oft bis zur Grobheit unkommunikativ, auch seinem Freund Watson gegenüber, und gibt sich häufig – und das wird von Watson stets mißbilligend angemerkt – dem Genuß von Rauschgiften hin. Das ver›menschlicht‹ ihn, genauso wie der Umstand, daß er gutem Essen zugeneigt ist und daß er, der sich für seine Arbeit grundsätzlich bezahlen läßt, gelegentlich von einem Reichen mehr Honorar nimmt, während er sich Armen gegenüber als großzügig erweist und auf Bezahlung verzichtet. Seine Unbeweibtheit und schier misogyne Einstellung hingegen (Watson weiß nur von einer Frau, die er wirklich bewundert: Irene Adler aus ›Ein Skandal in Bohemia‹), die auf des Lesers Unverständnis stoßen oder einen Schatten auf den Charakter werfen könnten, liegt am Genre und am Wesen seines Helden, dessen einsame Größe und Einmaligkeit keine feste Bindung, auch keine dauernde amouröse, zuläßt. ›Eine Liebesgeschichte schwächt den Kriminalroman fast immer‹, stellte Raymond Chandler 1949 in den ›Gelegentlichen Notizen über den Kriminalroman‹ lapidar fest, und er konstatiert in Betracht der langen Reihe der Detektive seit Dupin, Lecoq und Sherlock Holmes: ›Ein wirklich guter Detektiv heiratet niemals.‹
So hatte denn die Literatur in der Gestalt des Sherlock Holmes einen Ritter ohne Furcht und mit nur geringem Anlaß zum Tadel, dafür aber mit um so größeren Geistesgaben gewonnen, der in allen Ländern auf ein stetig wachsendes Publikum stieß.
London mit seinen Quartieren und Straßen, seinen Kirchen, Kneipen und Theatern, seinen Bahnhöfen und seinem Hafen ist Sherlock Holmes’ eigentliche Welt, auch wenn er sich oft zur Lösung der ihm übertragenen Fälle ins Umland begeben und sich mit den Verhältnissen von ländlichen Bürgern und Edelleuten sowie deren Bediensteten befassen muß, und als der Mittelpunkt dieser Stadt erscheint in Watsons Erzählungen das Haus in der Baker Street 212B. Dieses London wird topographisch exakt so dargestellt, daß man nach den Beschreibungen geradezu einen Stadtplan anfertigen könnte. Und Holmes, weit entfernt davon, sich nur auf seine Intuition und seine Analysierkunst zu verlassen, nutzt denn auch bei seinen Recherchen die Möglichkeiten, die dieses London bietet, und erweitert und stützt so die ihm gegebenen Fähigkeiten: Er bedient sich des Telegraphen, der zahlreichen Mietdroschken, der innerstädtischen Verkehrsmittel, der Archive, der Register, der Möglichkeit, private Zeitungsannoncen aufgeben zu können. Jedoch vermitteln die in dem Zeitraum zwischen 1875 und 1914 angesie delten Geschichten kein ebenso exaktes Bild von der sozialen Struktur der Stadt, die nicht mehr, wie noch zu Zeiten Charles Dickens’, eine Ansammlung von vergleichsweise isolierten Pfarrbezirken und Vororten mit fast noch patriarchalisch geordnetem Leben war, sondern sich durch immerwährenden Zustrom proletarisierter Landbewohner zu einer riesigen, schwer überschaubaren und schwer regierbaren Metropole entwickelt hatte. Ein Drittel ihrer im Jahre 1891 bereits auf 4 300 000 Menschen angewachsenen Bevölkerung lebte um die Jahrhundertwende im Zustand absoluter Armut, was unter anderem ein ständiges Steigen der aus Not begangenen Eigentumsdelikte mit sich brachte; fast eine
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