Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
frappierende Ähnlichkeiten aufweist: Wie dieser ist er Pfeifenraucher und manchmal, wenn er nicht eine Fährte verfolgt, in träumerischer, fast brütender Stimmung; wie dieser spricht er kaum über seinen ›Fall‹, solange er an ihm arbeitet, bricht er in anderer Leute Gedankengänge ein und führt sie zu Ende und hält er nicht allzu viel von beamteten Rechercheuren; wie diesem ist ihm ein Erzähler beigegeben, vor dessen simplem ›gesundem Menschenverstand‹ sich seine immense Analysierfähigkeit desto strahlender abhebt; wie dieser hegt er die streng positivistische Überzeugung, durch richtiges – und das heißt immer: deduktives – Angehen eines Problems auf jeden Fall zu seiner Lösung zu gelangen, und das geradezu klassisch gewordene und in der Nachfolge von Dutzenden Autoren befolgte Wort des Sherlock Holmes hätte auch Monsieur Dupin in den Mund gelegt werden können: ›Es ist eine meiner alten Maximen: Was übrigbleibt, wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muß die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie sich auch ausnehmen mag‹ (›Die Beryll-Krone‹).
Conan Doyle war ein eifriger Leser, auch von Autoren, deren Romane und Erzählungen keinen Anspruch auf hohen literarischen Wert erheben konnten. So weisen zum Beispiel seine Tagebücher von 1885 und 1886 aus, daß er sich in diesen Jahren fast ausschließlich der Lektüre von Detektivgeschichten hingab, die in der Nachfolge Poes in England, Frankreich und Amerika in Mode gekommen waren, und in einem Interview mit der ›Westminster Gazette‹ antwortete er am
13.12.1900 auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, ›Späte Rache‹ zu schreiben und damit Sherlock Holmes in die Literatur einzuführen: ›Damals, um das Jahr 1886, hatte ich einige Detektivgeschichten gelesen und stieß mich an dem Unsinn, den sie verzapften – um es mild auszudrücken –, weil die Autoren bei der Auflösung des Geheimnis ses sich immer von irgendwelchen Zufällen abhängig machten. Ich nahm daran Anstoß, weil mir das als ein nicht faires Spiel vorkam; denn der Detektiv sollte seinen Erfolg etwas verdanken, das seinen eigenen Überlegungen entsprang und nicht einfach zufälligen Umständen, die sich im wirklichen Leben ohnehin nicht ergeben.‹
Unter den Autoren, deren Bücher er damals las, finden sich neben den Verfassern von eher dem Irrationalen als der sachlichen Aufklärung haarsträubender Verbrechen dienenden englischen Schauergeschichten, den ›gothic novels‹, auch Wilkie Collins, dessen dickleibige ›Sensationsromane‹, wie diese Gattung damals genannt wurde, ›Die Dame in Weiß‹ (›The Woman in White‹, 1860), ›Armandale‹ (1864) und ›Der Mondstein‹ (›The Moonstone‹, 1868) über England hinaus Furore machten, Anna Katherine Green, die mit ›Der Fall Leavenworth‹ (›The Leavenworth Case‹, 1878) den Anstoß für eine geradezu explosive Entwicklung der Kriminalliteratur in den USA gegeben hatte, und der Amerikaner John Russell Coryell, der Schöpfer des Detektivs Nick Carter, des ersten erfolgreichen Serienhelden des Genres. Und Doyle las natürlich die Romane von Emile Gaboriau, dem erfolgreichsten KriminalromanVerfasser, dessen Werke weltweite Verbreitung fanden und auch von Gebildeten gelesen wurden. (Mommsen und Tschechow waren zum Beispiel Verehrer Gaboriaus). In den detektivischen Abenteuern um den Privatier Père Tabaret und den Polizisten Lecoq, der Vidoq, dem Begründer der ›Po lice de sûreté‹ nachgestaltet war, verband Gaboriau die von Poe übernommene Methode der ›ratiocination‹ mit den damals gängigen polizeilichen Aufklärungspraktiken, über die er als langjähriger Reporter und dank guter Verbindungen zur Pariser Polizei wie kein zweiter Bescheid wußte, und der nach dem Muster von Dumas fils und anderer Boulevardschriftsteller geschneiderten Darstellung des gesellschaftlichen Lebens der ›belle époque‹. So entstand, als Ergänzung zur Kriminal Erzählung Poes, die in einer lupenreinen Denkwelt angesiedelt ist, der Kriminal Roman , der durch Einbeziehung sozialer und psychologischer Komponenten, durch Aufnahme von sentimentalen und amourösen Episoden ein – wie auch immer gefärbtes – Abbild der Gesellschaft mitlieferte. Conan Doyle hat Gaboriau geschätzt, sich jedoch schon beim ersten Auftreten seines Sherlock Holmes in ›Späte Rache‹ von ihm zu distanzieren gesucht, wahrscheinlich, um nicht als Epigone des weltbekannten Franzosen angesehen zu werden: Holmes erklärt Watson
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