Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
sieben Uhr von ihrer Ausfahrt zurück. Um die Zeit müssen wir vor ›Briony Lodge‹ sein, um sie nicht zu verpassen.«
»Und was dann?«
»Das, bitte, überlassen Sie mir. Ich habe bereits alles arrangiert. Nur auf einem bestehe ich. Sie dürfen sich nicht einmischen, gleich, was geschehen mag. Verstehen Sie mich?«
»Ich soll also neutral bleiben?«
»Sie sollen nichts, überhaupt nichts tun. Voraussichtlich wird es einige kleine Unannehmlichkeiten geben. Mischen Sie sich nicht ein. Es wird darauf hinauslaufen, daß man mich ins Haus bringt. Vier oder fünf Minuten danach wird das Fenster des Salons aufgehen. Sie haben sich nah bei dem offenen Fenster aufzuhalten.«
»Gut.«
»Sie müssen mich beobachten, Sie werden mich sehen können.«
»Gut.«
»Und wenn ich die Hand hebe – so –, dann werfen Sie in das Zimmer, was ich Ihnen zu diesem Zweck geben werde, und dabei rufen Sie ›Feuer‹. Konnten Sie mir folgen?«
»Völlig.«
»Es ist nichts Schreckliches«, sagte er und holte eine lange zigarrenförmige Rolle aus der Tasche. »Eine gewöhnliche Rauchrakete, an jedem Ende mit einer Kapsel versehen, woran man sie zünden kann. Damit ist Ihre Aufgabe beendet. Wenn Sie ›Feuer‹ schreien, wird der Ruf von ziemlich vielen Leuten aufgenommen werden. Sie können dann ans Ende der Straße gehen, und zehn Minuten später werde ich bei Ihnen sein. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ich soll neutral bleiben, mich nah am Fenster halten, Sie beobachten und auf Ihr Signal dieses Ding werfen, dann Feuer schreien und Sie an der Straßenecke erwarten.«
»Präzis.«
»Sie können sich ganz auf mich verlassen.«
»Das ist vorzüglich. Ich glaube, jetzt ist es Zeit, daß ich mich auf die neue Rolle vorbereite.«
Er verschwand im Schlafzimmer und kam nach wenigen Minuten in der Maske eines liebenswürdigen, einfältigen Nonkonformisten-Geistlichen zurück. Der breite schwarze Hut, die ausgebeulten Hosen, das weiße Beffchen, das einnehmende Lächeln – überhaupt die ganze Erscheinung war von der Art wohlmeinender Neugier, wie sie allein Mr. John Hare hervorbringen konnte. Es handelte sich nicht darum, daß Holmes nur sein Kostüm gewechselt hätte. Sein Ausdruck, seine Gebärden, ja seine Seele schienen sich mit der Annahme jeder neuen Rolle zu verändern. Die Bühne hatte einen hervorragenden Schauspieler, wie die Wissenschaft einen scharfen Denker eingebüßt, als er Spezialist für Verbrechen wurde.
Viertel nach sechs verließen wir die Baker Street, und es fehlten noch zehn Minuten an der vollen Stunde, als wir die Serpentine Avenue erreichten. Es war schon neblig, die Lampen waren gerade angezündet worden, und wir schritten in Erwartung seiner Bewohnerin vor ›Briony Lodge‹ auf und ab. Das Haus sah genauso aus, wie ich es mir nach Sherlock Holmes’ bündiger Beschreibung vorgestellt hatte, aber der Ort schien mir weniger einsam zu sein als erwartet. Im Gegenteil, für eine kleine Straße in ruhiger Gegend war sie merkwürdig belebt. In einer Ecke stand eine Gruppe schäbig gekleideter Männer, die rauchten und lachten, dann sah ich einen Scherenschleifer mit seinem Rad, zwei Soldaten, die mit einem Kindermädchen schäkerten, und einige gut gekleidete junge Leute, die, Zigarren im Mund, auf dem Gehweg flanierten.
»Sehen Sie«, bemerkte Holmes, als wir vor dem Haus hin und her wanderten, »die Heirat vereinfacht das Ganze eher. Die Fotografie wird jetzt zu einer zweischneidigen Waffe. Es steht so, daß sie nun ebensoviel dagegen haben müßte, daß Godfrey Norton das Bild sieht, wie unser Klient dagegen ist, daß es der Prinzessin vor Augen kommt. Bleibt die Frage: Wo haben wir die Fotografie zu suchen?«
»Ja, wo?«
»Es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie das Bild mit sich herumträgt. Es hat Kabinettformat, ist also zu groß, als daß es leicht in den Kleidern einer Frau verborgen werden könnte. Sie weiß, daß es der König fertigbringt, ihr auflauern und sie durchsuchen zu lassen. Zweimal wurde das schon versucht. Wir dürfen annehmen, daß sie es nicht mit sich herumträgt.«
»Wo ist es dann?«
»Bei ihrem Bankier oder bei ihrem Rechtsanwalt, diese beiden Möglichkeiten gibt es. Aber ich neige dazu, sie beide zu verwerfen. Frauen sind von Natur geheimniskrämerisch, und sie haben gern ihre Geheimnisse. Warum sollte sie das Bild jemand anderem gegeben haben? Auf die eigene Wachsamkeit kann sie sich
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