Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
doch, muß ich sagen, wirken sie letztlich weder faszinierend noch künstlerisch.«
»Eine gewisse Auswahl und Besonnenheit sind unabdingbar, will man einen realistischen Effekt erzielen. Daran mangelt es in den Polizeiberich ten. In ihnen wird unter Umständen den Platitüden eines Richters größeres Gewicht beigemessen als den Details eines Falles, die für den Beobachter das Lebenswichtige der ganzen Angelegenheit darstellen. Verlassen Sie sich darauf, nichts ist unnatürlicher als der Gemeinplatz.«
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe schon, warum Sie so denken«, sagte ich. »Sie in Ihrer Stellung als unabhängiger Ratgeber und Helfer der zutiefst Verwirrten auf drei Kontinenten werden mit allem Bizarren und Fremden in Kontakt gebracht. Aber hier…« – ich hob die Morgenzeitung vom Boden auf – »lassen Sie uns die Probe aufs Exempel machen. Gleich die erste Schlagzeile, auf die ich stoße: ›Grausamkeit eines Ehemanns gegenüber seiner Frau.‹ Das füllt eine halbe Kolumne, aber ich weiß ohne zu lesen, daß mir alles sehr vertraut ist. Da gibt es selbstverständlich die andere Frau, den Suff, den Stoß, den Schlag, den Bluterguß, die mitfühlende Schwester und Hauswirtin. Der plumpeste Schreiber könnte nichts Plumperes erfinden.«
»Tatsächlich erweist sich Ihr Beispiel als unglücklich für Ihre Argumentation«, sagte Holmes, nahm die Zeitung und überflog den Artikel. »Das ist der Scheidungsfall der Dundas, und ich war, wie das Leben so spielt, engagiert, in dem Zusammenhang einige Details aufzuklären. Der Hausherr war Abstinenzler, es gab keine andere Frau, und sein schlechtes Benehmen bestand einzig darin, daß er es sich angewöhnt hatte, jedes Mahl damit zu beginnen, daß er die falschen Zäh ne herausholte und sie nach seiner Frau warf, ein Benehmen – Sie müssen es zugeben –, das kaum der Phantasie eines durchschnittlichen Geschichtenerzählers einfiele. Nehmen Sie eine Prise Schnupftabak, Doktor, und gestehen Sie, daß ich Sie mit meinem Beispiel geschlagen habe.«
Er hielt mir seine Schnupftabakdose hin. Sie war aus altem Gold und hatte einen großen Amethyst auf der Mitte des Deckels. Ihr Glanz stand in solchem Gegensatz zu seiner Schlichtheit und seinem einfachen Leben, daß ich nicht umhinkonnte, eine Bemerkung darüber zu machen.
»Ach ja, ich vergaß, daß ich Sie einige Wochen nicht gesehen habe. Das ist ein kleines Andenken vom König von Bohemia zum Lohn für meine Hilfe in Sachen der Irene Adler.«
»Und der Ring«, fragte ich mit Blick auf einen bemerkenswerten Brillanten, der an seinem Finger funkelte.
»Der kommt vom regierenden Haus von Holland. Doch die Angelegenheit, in der ich helfen konnte, ist von solcher Delikatesse, daß ich sie selbst Ihnen, der Sie so freundlich waren, über einige meiner kleinen Fälle zu berichten, nicht anvertrauen kann.«
»Und sind Sie augenblicklich wieder mit einer Untersuchung befaßt?« fragte ich interessiert.
»Mit zehn oder zwölf Sachen, aber es ist nichts darunter, das des Nachfragens lohnt. Sie sind wichtig, verstehen Sie, aber nicht interessant. Ich habe in der Tat herausgefunden, daß es im allgemeinen die unbedeutenden Dinge sind, die ein Feld für Beobachtung und für die schnelle Analyse von Ursachen und Wirkungen auftun, für all das also, was einer Untersuchung den Zauber verleiht. Die größeren Verbrechen sind in der Regel simpler; je größer das Verbrechen, um so offensichtlicher ist normalerweise das Motiv. Unter meinen gegenwärtigen Fällen gibt es nichts – ausgenommen die ziemlich verwickelte Geschichte, derentwegen man sich aus Marseille an mich gewandt hat –, was das Interesse erregen könnte. Möglicherweise habe ich in ein paar Minuten etwas Besseres, denn da kommt eine Klientin, oder ich müßte mich sehr irren.«
Er hatte sich aus seinem Sessel erhoben, die Vorhänge auseinandergeschoben und schaute auf die trübe, farblose Londoner Straße hinunter. Ich blickte ihm über die Schulter und sah auf dem gegenüberliegenden Trottoir eine hochgewachsene Frau stehen. Um den Hals trug sie eine Pelzboa, eine große, geschwungene rote Feder wippte auf einem breitrandigen Hut, der in der koketten Manier der Duchess of Devonshire auf einem Ohr saß. Unter diesem pompösen Gebilde schaute sie nervös und zögernd zu unserem Fenster hinauf, ihr Körper schwankte leicht vor und zurück, und sie nestelte an den Knöpfen ihrer Handschuhe. Dann, mit einem
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