Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
und gemein sam nutzten sie seine Abwesenheit in den Morgenstunden der Wochentage. Seit ich wußte, daß der Gehilfe für den halben Lohn arbeitete, war mir klar, daß er einen zwingenden Grund haben mußte.«
»Aber wie sind Sie hinter das Motiv gekommen?«
»Wären in dem Haus Frauen gewesen, hätte ich eine gewöhnliche Intrige vermutet. Doch das kam nicht in Frage. Der Mann unterhält nur ein kleines Geschäft, und es gab nichts in seinem Hause, was derart bemühte Vorbereitungen gerechtfertigt hätte. Es mußte sich also um etwas handeln, das außerhalb des Hauses lag. Was konnte es sein? Ich dachte an die Fotografierfreudigkeit des Gehilfen, seinen Trick, im Keller zu verschwinden. Der Keller! Dort lag das Ende des verwickelten Knäuels. Ich zog Erkundigungen über den geheimnisvollen Gehilfen ein und fand heraus, daß ich es mit dem kaltblütigsten und wagemutigsten Verbrecher Londons zu tun hatte. Er stellte etwas an in dem Keller – etwas, das mehrere Monate beanspruchte. Was also war es? Ich konnte mir nichts anderes vorstellen, als daß er einen Tunnel zu einem anderen Gebäude grub.
Soweit war ich, bevor ich den Schauplatz betrat. Ich überraschte Sie damit, daß ich mit dem Stock auf das Pflaster stieß. Ich wollte mich vergewissern, ob der Keller nach vorn oder nach hinten hinaus geht. Er ging nicht nach vorne. Dann zog ich die Glocke, und, wie ich gehofft hatte, erschien der Gehilfe an der Tür. Ich hatte mit ihm schon einige Scharmützel, aber er war mir noch nie zu Gesicht gekommen. Ihn blickte ich kaum an. Seine Knie waren es, die ich sehen wollte. Es muß Ihnen auch aufgefallen sein, wie abgeschabt, zerknittert und schmutzig der Stoff war. Diese Hosen erzählten mir von den Stunden des Grabens. Was übrigblieb, war die Frage, wonach er grub. Ich ging um die Ecke, sah die City and Suburban Bank, die an das Grundstück unseres Freundes grenzt, und fühlte, daß ich das Problem gelöst hatte. Als Sie nach dem Konzert nach Hause fuhren, rief ich bei Scotland Yard und beim Generaldirektor der Bank an, mit dem Resultat, das Sie kennen.«
»Und woher wußten Sie, daß der Anschlag in der folgenden Nacht unternommen werden würde?«
»Die Schließung des Büros der Liga war ein Zeichen, daß sie Mr. Jabez Wilsons Abwesenheit nicht länger benötigten; mit anderen Worten: Sie hatten den Tunnel fertig. Aber es war wichtig, daß sie ihn bald benützten. Er konnte entdeckt oder das Gold konnte an einen anderen Ort gebracht werden. Der Samstag paßte ihnen besser als jeder andere Tag, da er ihnen für ihre Flucht zwei Tage Vorsprung eintrug. Aus allen diesen Gründen erwartete ich, daß sie heute nacht kommen würden.«
»Das haben Sie herrlich erschlossen«, rief ich in aufrichtiger Bewunderung. »Das ist eine so lange Gedankenkette, und doch paßt jedes Glied genau ans andere.«
»Das Gedankenspiel hat mich vor der Langeweile bewahrt«, antwortete Sherlock Holmes und gähnte. »Aber ach, ich fühle sie schon wieder auf mich zukommen! Ich bringe mein Leben hin in einem einzigen langen Versuch, den Gemeinplätzen des Daseins zu entrinnen. Solche kleinen Probleme helfen mir dabei.«
»Und Sie sind ein Wohltäter der Menschheit«, sagte ich.
Er zuckte die Schultern. »Na, vielleicht nützt es ein bißchen«, bemerkte er. ›» L’homme c’est rien – l’œuvre c’est tout ‹, wie Gustave Flaubert an George Sand schrieb.«
Ein Fall von Identität
»Mein lieber Junge«, sagte Sherlock Holmes, als wir uns in seiner Wohnung in der Baker Street am Kamin gegenübersaßen, »Leben ist so unendlich viel seltsamer als alles das, was der menschliche Verstand erfinden könnte. Wir würden es nicht wagen, Dinge auszudenken, die das wirkliche Leben alltäglich bietet. Könnten wir jetzt aus dem Fenster fliegen und Hand in Hand über der großen Stadt schweben, heimlich die Dächer abheben und die Absonderlichkeiten erblicken, die unter ihnen vorgehen, die Zufälle, die Pläne, die Mißverständnisse, die wundersamen Ketten der Ereignisse, welche Generationen durchziehen und in den ausgefallensten Ergebnissen enden – jede Dichtung mit ihren Konventionen und voraussehbaren Lösungen würde höchst abgeschmackt und unnütz erscheinen.«
»Ich bin davon nicht überzeugt«, antwortete ich. »Die Fälle, die durch die Zeitungen ans Licht kommen, sind in der Regel armselig und gewöhnlich. Die Berichte unserer Polizei werden von einem extremen Realismus beherrscht, und
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