Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Zugang zum Haus zu erzwingen, indem sie vorgab, gewisse Ansprüche gegen Lord St. Simon zu haben. Erst nach einer längeren, betrüblichen Szene konnte sie durch den Butler und den Lakaien entfernt werden. Die Braut, welche glücklicherweise vor dieser unerfreulichen Unterbrechung das Haus betreten hatte, hatte sich bereits mit den übrigen zum Frühstück niedergelassen, als sie über eine plötzliche Unpäßlichkeit klagte und sich in ihre Räumlichkeiten zurückzog. Nachdem ihr langes Fernbleiben Anlaß zur Beunruhigung gab, folgte ihr Vater ihr; er erfuhr jedoch von ihrer Zofe, daß sie nur für einen Augenblick in ihr Zimmer hinaufgegangen war, einen Ulster und eine Haube ergriffen hatte und dann wieder zum Korridor hinabgehastet war. Einer der Lakaien sagte aus, er habe eine in dieser Weise angetane Dame das Haus verlassen sehen; er habe jedoch nicht geglaubt, es könne sich um seine Herrin handeln, da er diese bei der Gesellschaft wähnte. Nachdem er festgestellt hatte, daß seine Tochter verschwunden war, setzte sich Mr. Aloysius Doran, zusammen mit dem Bräutigam, sogleich mit der Polizei in Verbindung, und zur Zeit werden äußerst energische Untersuchungen vorgenommen, die vermutlich zu einer baldigen Erhellung dieser einzigartigen Angelegenheit führen werden. Bis spät in der vergangenen Nacht war aber noch nichts über den Aufenthaltsort der vermißten Dame in Erfahrung zu bringen. Es kursieren jedoch Gerüchte über üble Machenschaften in dieser Sache, und dem Vernehmen nach soll die Polizei die Festnahme der Frau, die die anfängliche Störung verursacht hatte, veranlaßt haben, in dem Glauben, sie könne aus Eifersucht oder sonstigen Motiven an dem merkwürdigen Verschwinden der Braut beteiligt gewesen sein.«
»Und das ist alles?«
»Nur noch eine kleine Meldung in einer anderen Morgenzeitung, aber die ist sehr aufschlußreich.«
»Und zwar?«
»Daß Miss Flora Millar, die Dame, die die Aufregung verursacht hat, tatsächlich festgenommen worden ist. Anscheinend war sie früher eine
danseuse
im ›Allegro‹ und hat den Bräutigam seit Jahren gekannt. Weitere Einzelheiten gibt es nicht, und damit verfügen Sie über den ganzen Fall – soweit er in der Presse dargelegt worden ist.«
»Und es scheint ein überaus interessanter Fall zu sein. Ich möchte ihn um keinen Preis versäumt haben. Aber da wird geläutet, Watson, und da die Uhr kurz nach vier zeigt, zweifle ich nicht daran, daß das unser vornehmer Klient ist. Kommen Sie nicht auf den Gedanken zu gehen, Watson, ich hätte nämlich sehr gern einen Zeugen, und sei es auch nur zur Stützung meines eigenen Gedächtnisses.«
»Lord Robert St. Simon«, kündigte unser Page an, indem er die Tür weit öffnete. Es trat ein Gentleman ein, mit einem angenehmen, kultivierten Gesicht, blaß und mit feiner Nase, einem Zug um den Mund, der vielleicht auf Verdrießlichkeit schließen ließ, und mit dem ruhigen, offenen Blick eines Mannes, dessen angenehmes Los es allezeit war, zu befehlen und zu sehen, daß man ihm gehorcht. Seine Haltung zeugte von Lebhaftigkeit, und doch machte sein Äußeres insgesamt einen unangemessenen Eindruck von Alter, denn er ging leicht vorgebeugt, und seine Knie gaben beim Gehen ein wenig nach. Als er den Hut mit geschwungener Krempe abnahm, war auch sein Haar an den Rändern ergraut und obenauf gelichtet. Seine Kleidung war sorgfältig bis an die Grenze der Geckenhaftigkeit, mit hohem Kragen, schwarzem Gehrock, weißer Weste, gelben Handschuhen, Glanzlederschuhen und hellen Gamaschen. Er trat langsam vor bis in die Mitte des Raumes, wandte sein Haupt nach links und nach rechts und schwang in der Rechten die Kette, die seinen goldenen Kneifer hielt.
»Guten Tag, Lord St. Simon«, sagte Holmes; er stand auf und verbeugte sich. »Bitte nehmen Sie in dem Korbsessel Platz. Dies ist mein Freund und Kollege Dr. Watson. Kommen Sie ein wenig näher ans Feuer, und dann wollen wir diese Angelegenheit bereden.«
»Für mich ist es eine sehr schmerzliche Angelegenheit, wie Sie sich sicher vorstellen können, Mr. Holmes. Sie hat mich aufs empfindlichste getroffen. Ich hörte, Sie haben bereits mehrmals derart delikate Fälle behandelt, Sir, wenn ich auch annehme, daß sie kaum aus der gleichen Gesellschaftsschicht waren.«
»Das ist richtig; ich bin auf dem Abstieg.«
»Verzeihung?«
»Mein letzter derartiger Klient war ein König.«
»Ach, tatsächlich! Das war mir nicht bekannt. Und welcher König?«
»Ein skandinavischer
Weitere Kostenlose Bücher