Die Abenteuer des Sherlock Holmes
sie hat erraten, daß ich einen Spiegel in der Hand und gesehen hatte, was hinter mir war. Sie ist sofort aufgestanden.
›Jephro‹, hat sie gesagt, ›auf der Straße steht ein unverschämter Kerl, der Miss Hunter anstarrt.‹
›Kein Freund von Ihnen, Miss Hunter?‹ fragt er.
›Nein; ich kenne niemanden hier in der Gegend.‹
›Liebe Güte! Wie aufdringlich! Drehen Sie sich doch bitte um und bedeuten Sie ihm, daß er gehen soll.‹
›Es wäre aber doch bestimmt besser, keine Notiz davon zu nehmen?‹
›Nein, nein, dann würde er nur immer wieder hier herumlungern. Bitte drehen Sie sich um und winken Sie ihn weg, so etwa.‹
Ich habe getan, was man mir sagte, und gleichzeitig hat Mrs. Rucastle den Vorhang vorgezogen. Das war vor einer Woche, und seitdem habe ich nicht mehr am Fenster gesessen, noch das blaue Kleid getragen, noch den Mann auf der Straße gesehen.«
»Bitte fahren Sie fort«, sagte Holmes. »Ihre Geschichte verspricht, überaus interessant zu werden.«
»Ich fürchte, Sie werden sie eher zusammenhanglos finden, und es kann kaum Verbindungen geben zwischen den unterschiedlichen Vorfallen, von denen ich zu berichten habe. Als ich den ersten Tag in
The Copper
Beeches
war, hat Mr. Rucastle mich zu einem kleinen Nebengebäude in der Nähe der Küchentür gebracht, und als wir näherkamen, habe ich das helle Rasseln einer Kette gehört und ein Geräusch, als ob ein großes Tier in dem Schuppen wäre und sich bewegte.«
›Schauen Sie mal!‹ hat Mr. Rucastle gesagt und mir einen Spalt zwischen zwei Brettern gezeigt. ›Ist er nicht eine Schönheit?‹
Ich habe hindurchgeschaut und zwei glühende Augen und eine in der Dunkelheit kauernde undeutliche Gestalt wahrgenommen.
›Keine Angst‹, sagt mein Brotherr und lacht darüber, daß ich zusammenzucke, ›das ist nur Carlo, mein Bullenbeißer. Ich sage »mein«, aber in Wahrheit ist der alte Toller, der Bursche, der einzige Mann, der mit ihm fertig wird. Wir füttern ihn einmal pro Tag, und dann auch nicht zu gut, damit er immer scharf ist wie Senf. Toller läßt ihn nachts immer los, und gnade Gott dem Eindringling, den er zwischen die Fänge bekommt. Setzen Sie um Himmels willen, gleich aus welchem Grund, niemals nachts einen Fuß über die Schwelle, wenn Ihnen Ihr Leben etwas wert ist.‹
Das war keine leere Warnung; zwei Nächte später habe ich nämlich zufällig aus meinem Schlafzimmerfenster geschaut, so gegen zwei Uhr morgens. Es war eine wunderschöne Mondnacht, und der Rasen vor dem Haus war ganz versilbert und fast taghell. Ich stand da und war gefangen von der friedvollen Schönheit der Szenerie, als ich bemerkt habe, daß sich im Schatten der Blutbuchen etwas bewegte. Es war ein riesiger Hund, groß wie ein Kalb, lohfarben, mit hängender Wamme, schwarzer Schnauze und großen, hervorstehenden Knochen. Er ist langsam über den Rasen gelaufen und im Schatten auf der anderen Seite verschwunden. Dieser schreckliche stumme Wachtposten hat mir solche Angst eingejagt, wie, glaube ich, kein Einbrecher es gekonnt hätte.
Und nun habe ich Ihnen von einer sehr seltsamen Erfahrung zu berichten. Wie Sie wissen, hatte ich in London mein Haar abgeschnitten und es in einer großen Schlinge ganz unten in meinen Koffer gelegt. Eines Abends, nachdem das Kind im Bett war, habe ich mich damit unterhalten, daß ich die Möbel in meinem Raum untersucht und meine wenigen Habseligkeiten verteilt habe. Im Zimmer steht eine alte Kommode mit Schubladen; von ihnen waren die beiden oberen leer und offen, die untere verschlossen. Ich hatte meine Wäsche in die beiden oberen gepackt und hatte noch viel unterzubringen, deshalb war ich natürlich verärgert darüber, daß ich die dritte Schublade nicht benutzen konnte. Ich dachte, vielleicht ist sie nur aus Versehen verschlossen worden, also habe ich meinen Schlüsselbund genommen und versucht, sie zu öffnen. Schon der erste Schlüssel hat bestens gepaßt, und ich habe die Schublade herausgezogen. In der Schublade lag nur ein einziger Gegenstand, aber ich bin sicher, Sie würden nie erraten, was es war. Es war die Schlinge aus meinem Haar.
Ich habe sie aufgenommen und untersucht. Das Haar war von der gleichen eigenartigen Färbung und der gleichen Dichte. Aber dann fiel mir auf, daß das ja völlig unmöglich war. Wie hätte mein Haar in die abgeschlossene Schublade kommen sollen? Mit zitternden Händen habe ich meinen Koffer geöffnet, alle Sachen herausgenommen und vom Boden mein Haar herausgeholt. Ich
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