Die Abenteuer des Sherlock Holmes
was ich tun soll.«
Holmes und ich hatten dieser außerordentlichen Geschichte wie gebannt gelauscht. Nun erhob sich mein Freund und ging im Raum auf und ab, die Hände in den Taschen, auf dem Gesicht einen Ausdruck der größten Besorgnis.
»Ist Toller noch immer betrunken?« fragte er.
»Ja. Ich habe gehört, wie seine Frau Mrs. Rucastle gesagt hat, mit ihm sei heute nichts anzufangen.«
»Das ist gut. Und die Rucastles gehen heute abend aus?«
»Ja.«
»Gibt es im Haus einen Keller mit einem sicheren Schloß?«
»Ja, den Weinkeller.«
»Mir scheint, Sie haben sich bei all dem wie ein tapferes und vernünftiges Mädchen verhalten, Miss Hunter. Glauben Sie, Sie könnten das noch einmal? Ich würde Sie nicht fragen, wenn ich Sie nicht für eine ganz außergewöhnliche Frau hielte.«
»Ich will es versuchen. Worum geht es?«
»Mein Freund und ich werden um sieben Uhr nach
The Copper Beeches
kommen. Die Rucastles werden dann fort sein, und Toller, hoffen wir es, zu nichts zu gebrauchen. Es bleibt nur Mrs, Toller übrig, die Alarm schlagen könnte. Wenn Sie sie in den Keller schicken mit irgendeinem Auftrag und dann hinter ihr den Schlüssel umdrehen könnten, dann würden Sie die Dinge ungeheuer erleichtern.«
»Das will ich gern tun.«
»Ausgezeichnet! Wir werden uns dann gründlich mit dieser Angelegenheit befassen. Natürlich gibt es nur eine sinnvolle Erklärung. Man hat Sie dorthin geholt, damit Sie jemanden darstellen, und die Person selbst, um die es geht, ist in diesem Raum oben eingesperrt. Das ist offensichtlich. Und was den Gefangenen betrifft, so zweifle ich nicht daran, daß es die Tochter ist, Miss Alice Rucastle, die, wenn ich mich recht entsinne, angeblich nach Amerika gegangen ist. Zweifellos sind Sie deswegen ausgesucht worden, weil Sie ihr in Größe, Gestalt und Haarfarbe ähneln. Ihr Haar ist möglicherweise wegen irgendeiner Krankheit abgeschnitten worden, an der sie gelitten hat, und deshalb mußte Ihres natürlich auch geopfert werden. Durch einen seltsamen Zufall haben Sie ihre Haarflechten gefunden. Der Mann auf der Straße war ohne Zweifel ein Freund von ihr – möglicherweise ihr Verlobter –, und da Sie das Kleid des Mädchens getragen haben und ihr so ähnlich sehen, war er jedesmal, wenn er Sie gesehen hat, durch Ihr Lachen und später durch Ihre Gesten davon überzeugt, daß Miss Rucastle in bester Laune ist und seine Aufmerksamkeiten nicht länger wünscht. Der Hund wird nachts deshalb losgelassen, um ihn an dem Versuch zu hindern, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. So viel ist ziemlich klar. Der wichtigste Punkt des Falles ist der Zustand des Kindes.«
»Was um alles in der Welt hat das Kind damit zu tun?« rief ich.
»Mein lieber Watson, als Mediziner gewinnen Sie doch immer Aufschlüsse über die Veranlagung eines Kindes, indem Sie die Eltern beobachten. Sehen Sie denn nicht, daß man das Verfahren auch umdrehen kann? Meinen ersten wertvollen Einblick in den Charakter von Eltern habe ich oft dadurch gewonnen, daß ich ihre Kinder beobachtet habe. Das Kind ist anomal grausam veranlagt, Grausamkeit um der Grausamkeit willen, und ob der Junge das von seinem lächelnden Vater hat, wie ich vermute, oder von seiner Mutter, jedenfalls bedeutet es etwas Schlimmes für das arme Mädchen, das in ihrer Gewalt ist.«
»Ich bin sicher, daß Sie recht haben«, rief unsere Klientin. »Tausend Dinge fallen mir jetzt wieder ein, die mich davon überzeugen, daß Sie es getroffen haben. Oh, lassen Sie uns keinen Augenblick verlieren, sondern diesem armen Geschöpf helfen.«
»Wir müssen umsichtig sein, denn wir haben es mit einem sehr schlauen Mann zu tun. Vor sieben Uhr können wir nichts unternehmen. Um diese Zeit werden wir zu Ihnen kommen, und dann wird es nicht lange dauern, bis wir das Rätsel gelöst haben.«
Wir hielten Wort, denn es war genau sieben Uhr, als wir
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erreichten; wir hatten unseren Wagen in einer Gaststätte am Wegesrand zurückgelassen. Die Gruppe von Bäumen, deren dunkle Blätter im Licht der untergehenden Sonne wie poliertes Metall leuchteten, hätte ausgereicht, das Haus zu bezeichnen, selbst wenn Miss Hunter nicht lächelnd auf der Schwelle gestanden hätte.
»Haben Sie es erledigen können?« fragte Holmes.
Von irgendwo unterhalb des Erdgeschosses drang ein lautes Klopfen nach oben. »Das ist Mrs. Toller im Keller«, sagte sie. »Ihr Mann liegt schnarchend auf dem Teppich in der Küche. Hier sind seine Schlüssel, Duplikate von
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