Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Clair. Ich wohne dort, solange ich die Untersuchung durchführe.«
»Und wo liegt dieses Haus?«
»In der Nähe von Lee, in Kent. Wir haben eine Fahrt von sieben Meilen vor uns.«
»Aber ich weiß ja überhaupt nichts.«
»Natürlich nicht. Bald werden Sie alles wissen. Klettern Sie auf den Bock! In Ordnung, John, wir brauchen Sie nicht mehr. Hier haben Sie eine halbe Krone. Halten Sie morgen um elf Uhr Ausschau nach mir. Lassen Sie mir die Zügel! Bis morgen dann!«
Er gab dem Pferd leicht die Peitsche, und rasch fuhren wir durch die endlose Abfolge düsterer und verlassener Straßen, die allmählich breiter wurden, bis wir über eine weite, mit Geländern versehene Brücke flogen; träge floß unter uns der trübe Fluß. Dahinter lag eine weitere ausgedehnte Wildnis aus Ziegeln und Mörtel, deren Schweigen nur vom schweren, gemessenen Schritt des Polizisten oder den Rufen und Gesängen einer Gruppe später Nachtschwärmer gebrochen wurde. Ein ungefüges Wrack trieb langsam über den Himmel, und hier und da zwinkerten ein oder zwei Sterne durch die Risse in den Wolken. Holmes fuhr schweigend; der Kopf war auf die Brust gesunken, und er wirkte gedankenverloren, während ich neben ihm saß, begierig, endlich zu erfahren, welcher Art diese neue Suche war, die seine Fähigkeiten so stark zu beanspruchen schien, und doch hütete ich mich davor, den Strom seiner Gedanken zu unterbrechen. Wir hatten einige Meilen zurückgelegt und erreichten den Saum des Gürtels von Vorortvillen, als er sich schüttelte, mit den Schultern zuckte und seine Pfeife anzündete, mit der Miene eines Mannes, der sich davon überzeugt hat, daß er das Beste tut.
»Sie verfügen über die große Gabe, schweigen zu können, Watson«, sagte er. »Das macht Sie ganz unschätzbar als Gefährte. Mein Ehrenwort, es ist mir sehr lieb, daß ich mit jemandem sprechen kann, meine eigenen Gedanken sind nämlich nicht besonders erfreulich. Ich habe mich eben gefragt, was ich wohl dieser netten Frau nachher sagen soll, wenn sie mich an der Tür empfängt.«
»Sie vergessen, daß ich von nichts weiß.«
»Ich werde gerade noch die Zeit haben, Ihnen die Tatsachen des Falles zu berichten, bevor wir Lee erreichen. Es sieht absurd einfach aus, und dennoch finde ich irgendwie nichts, womit ich weitermachen könnte. Zweifellos hängen viele Fäden lose herum, aber ich kann da kein Ende in die Hand bekommen. Nun, ich will Ihnen den Fall klar und knapp darlegen, Watson, und vielleicht sehen Sie einen Lichtfunken, wo für mich alles dunkel ist.«
»Schießen Sie los.«
»Vor einigen Jahren – um genau zu sein, im Mai 1884 – ist nach Lee ein Gentleman namens Neville St. Clair gekommen, der viel Geld zu haben schien. Er hat eine große Villa bezogen, sich gut eingeführt und ganz allgemein in gutem Stil gelebt. Nach und nach schloß er Freundschaft mit den Nachbarn, und 1887 heiratete er die Tochter eines Brauers aus dem Ort, von der er inzwischen zwei Kinder hat. Er hatte keinen Beruf, wohl aber Kapital in mehreren Gesellschaften, und in der Regel fuhr er morgens in die Stadt und kam jeden Abend mit dem Zug um 5 Uhr 14 ab Cannon Street zurück. Mr. St. Clair ist jetzt 37 Jahre alt, ein Mann mit maßvollen Gewohnheiten, ein guter Ehemann, ein sehr zärtlicher Vater und überhaupt sehr beliebt bei allen, die ihn kennen. Ich will noch hinzufügen, daß er, soweit wir dies feststellen konnten, zur Zeit Schulden in der Gesamthöhe von 88 Pfund 10 Shilling hat, andererseits ein Guthaben bei der Capital and Counties Bank von 220 Pfund. Es gibt also keinen Grund für die Annahme, daß etwa Geldsorgen ihn bedrückt hätten.
Am letzten Montag ist Mr. Neville St. Clair viel früher als gewöhnlich in die Stadt gefahren; zuvor bemerkte er, er habe zwei wichtige Aufträge zu erledigen und würde seinem kleinen Jungen eine Schachtel Bauklötze mitbringen. Am nämlichen Morgen erhielt nun seine Frau zufällig ein Telegramm, kurz nachdem er abgefahren war, in dem ihr mitgeteilt wurde, ein kleines Päckchen von beträchtlichem Wert, das sie erwartet hatte, liege für sie im Büro der Aberdeen Shipping Company bereit. Nun, wenn Sie Ihr London kennen, dann wissen Sie, daß das Büro dieser Gesellschaft in der Fresno Street liegt, die von der Upper Swandam Lane abzweigt, wo Sie mich heute abend gefunden haben. Mrs. St. Clair nahm ihren Lunch ein, brach in die Stadt auf, machte einige Einkäufe, begab sich zu dem Büro der Gesellschaft, holte ihr Päckchen ab und befand sich
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