Die Abenteuer des Sherlock Holmes
wesentlich weniger beeindruckend, wenn sie
en bloc
in einer halben Druckspalte dargeboten werden, als wenn die Tatsachen sich langsam vor den eigenen Augen entwickeln und das Rätsel schrittweise erhellt wird in dem Maße, in dem jede neue Entdeckung eine Sprosse darstellt, die zur vollständigen Wahrheit führt. Zu jener Zeit hinterließen die Umstände einen tiefen Eindruck in mir, und der verstrichene Zeitraum zweier Jahre vermochte diese Wirkung kaum zu schwächen.
Es war im Sommer 1889, nicht lange nach meiner Heirat, als sich die Vorfälle ereigneten, die ich nun zusammenfassen will. Ich war zu zivilem Praktizieren zurückgekehrt und war schließlich aus den Räumen in der Baker Street ausgezogen, wenn ich ihn auch weiterhin besuchte und ihn gelegentlich sogar dazu überredete, seine Bohème-Gewohnheiten so weit außer acht zu lassen, daß er uns besuchte. Meine Praxis hatte sich stetig vergrößert, und da ich zufällig nicht allzu weit von der Paddington Station entfernt wohnte, gewann ich einige Patienten aus der Beamtenschaft. Einen von diesen hatte ich von einem schmerzhaften und langwierigen Leiden geheilt, und er wurde nie müde, meine Tugenden anzupreisen und zu versuchen, mir alle Leidenden zu schicken, auf die er Einfluß hatte.
Eines Morgens, kurz vor sieben Uhr, wurde ich dadurch geweckt, daß das Hausmädchen an die Tür klopfte, um mir mitzuteilen, zwei Herren seien von Paddington gekommen und warteten im Sprechzimmer. Ich zog mich eilends an, da ich aus Erfahrung wußte, daß Eisenbahn-Fälle selten belanglos waren, und lief die Treppe hinunter. Als ich noch auf der Treppe war, kam mein alter Verbündeter, der Schaffher, aus dem Raum und schloß die Tür hinter sich.
»Ich habe ihn da drin«, flüsterte er; er wies mit dem Daumen über seine Schulter. »Er ist in Ordnung.«
»Worum geht es denn?« fragte ich, denn seine Haltung deutete an, daß er ein seltsames Geschöpf in mein Zimmer wie in einen Käfig gesperrt hatte.
»Ein neuer Patient«, flüsterte er. »Ich habe mir gedacht, ich bringe ihn selbst her, dann kann er nicht entwischen. Da drin ist er, ganz sicher verwahrt. Ich muß jetzt gehen, Doktor, ich habe meine Pflichten wie Sie auch.« Und so verschwand mein trauter Schlepper und ließ mir nicht einmal Zeit, ihm zu danken.
Ich trat in mein Sprechzimmer und traf dort einen Gentleman an, der am Tisch saß. Er trug einen dezenten Anzug aus heidekrautfarbenem Tweed; eine weiche Stoffmütze hatte er auf meine Bücher gelegt. Um eine seiner Hände hatte er ein Taschentuch gewickelt, das allenthalben mit Blutflecken besudelt war. Er war jung, höchstens fünfundzwanzig, meiner Schätzung nach, mit einem kraftvollen, männlichen Gesicht; er war jedoch überaus fahl und machte den Eindruck eines Mannes, der unter einer starken Gemütsbewegung litt, die zu beherrschen all seine Kraft kostete.
»Es tut mir leid, daß ich Sie so früh aus dem Bett hole, Doktor«, sagte er. »Aber ich hatte in der Nacht einen sehr ernsten Unfall. Ich bin heute früh mit dem Zug in die Stadt gekommen, und als ich mich in Paddington erkundigte, wo ich wohl einen Arzt finden könnte, war ein braver Kerl so nett, mich herzubringen. Ich habe dem Mädchen eine Karte gegeben, aber wie ich sehe, hat sie sie auf dem Nebentisch liegen lassen.«
Ich nahm sie in die Hand und warf einen Blick darauf. »Mr. Victor Hatherley, Hydraulik-Ingenieur, 16a Victoria Street (3. Etage).« Dies waren Name, Beruf und Anschrift meines Morgenbesuchs. »Tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen«, sagte ich; ich setzte mich auf meinen Bibliotheksstuhl. »Wenn ich Sie recht verstehe, kommen Sie gerade von einer Nachtfahrt, und das ist schon an sich eine monotone Beschäftigung.«
»Ach, meine Nacht kann man nicht gerade monoton nennen«, sagte er und lachte. Er lachte aus vollem Herzen, mit einem hohen klirrenden Unterton, lehnte sich in seinem Sessel zurück und hielt sich die Seiten. Meine sämtlichen medizinischen Instinkte sträubten sich wider dieses Gelächter.
»Hören Sie auf!« rief ich. »Reißen sie sich zusammen!« Und ich goß ihm ein wenig Wasser aus einer Karaffe ein.
Es war jedoch sinnlos. Er befand sich in der Gewalt eines jener hysterischen Ausbrüche, die einen starken Charakter überkommen können, wenn eine große Krise vorüber ist. Nach einiger Zeit kam er wieder zu sich, sehr erschöpft und mit heißer Röte im Gesicht.
»Ich habe einen Narren aus mir gemacht«, keuchte er.
»Aber keineswegs. Trinken Sie
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