Die Abschaffung der Arten
ein bißchen interessanter ... und dann diese Frau. Du mußt von dir selbst alles verlangen, von anderen darfst du nichts fordern – so hat die mir das eingebimst, das war ihre Art von Elitismus. Harsch, in letzter Konsequenz auch alles andere als richtig – aber sehr hilfreich für eine überreizte Zicke, wie ich war. Das war mein eines, meine erstes Idol, diese Frau, die hat mich auch zur Musik geführt, das fing, da ich schon Klavier konnte, ganz naheliegend an, mit Skriabinplatten, Chopinplatten, dann auf einmal, rrrums, Schönberg, es lief über Gould. Glenn, nicht Stephen Jay.«
Das Gezweig knisterte.
Frau Späth fuhr fort: »Schnell weg vom Klavier, Orchestersachen verstehen lernen, Kammermusik zuerst, Webern kam, Berg auch bald, und danach, lustigerweise, nach diesen ernsten Initiationen, war alles offen, da sind wir dann direkt in die Gegenwart zusammen, Glass, Riley, und schließlich lief öhmtsss stockend und spotzend, aber immerhin, über gleichzeitiges Lernen in der Popmusik, das sie zu unterbinden versuchte, Gott segne die arme Frau, meine eigene Geschmacksbildung an. Zwar ist es mir dann sogar noch zweimal gelungen, Frau ... Fuchs-Stockmann hieß sie, stimmt ... zu beeindrucken, nämlich mit Robert Wyatt und mit irgendwas ähm auch Tüftlerischem, aber aus der Tanzecke, Elektronik – aber da drifteten wir schon auseinander. Lag auch an meinem zweiten Idol. Das war ... Katja. Unfaßbar. Wer sie nicht kennengelernt hat, dem kann ich überhaupt nur den blassesten Begriff ...«
Sie unterbrach sich selbst beim Reden, weil sie sich fragte, wem sie das erzählte und weshalb.
Der Baum blieb aufmerksam, und noch erstaunlicher: Man konnte das spüren, ja gar nicht übersehen. Die Atmung durch die Lentizellen, der Wohlgeruch des Interesses rund um die Bruchstellen der alten Haut, das schnelle Fließen der Informationen durch die Adern der Blätter: Ich rede hier, dachte Frau Späth, offenbar von etwas, das sie sehr angeht, oder wovon sie zumindest glaubt, daß es dies tut.
Nun gut: »Es gab da vorher schon ein paar Freundinnen, in aller Unschuld, Kiki und Bettina und diese und jene. Aber Katja Benante: Dieser Wirbel, das kam ... wie eine neue Linse, durch die man guckt – ich hab sie anfangs immer nur aus der Ferne bewundert, beim Tischtennisspielen gegen Sonja, beim Tanzen auf den Feten, wie die dunklen Locken geflogen sind, wie dieses lange Gesicht lachen konnte, und die Sommersprossen natürlich, die wie so Pünktchen bei Comicfiguren, wenn sie geschockt sind, mehr um das Gesicht rumzutanzen schienen als drauf fixiert zu sein ... und dann war sie ja zum Glück so dermaßen promisk bei ihren Freundschaften, fast schon wahllos, ich mein, sie konnte nie genug kriegen, sie wollte mit allen alles unternehmen, und alle wollten das mit ihr. Mich hat sie anfangs, als sie merkte, daß ich ihre Nähe suchte, immer in den Pausen zum kleinen Kiosk geschleppt, den der Hausmeister betrieben hat. Der war bis mittags geöffnet, und in so einem Glaskasten, da wollte sie immer Duplos kaufen, und da das die andern Mädchen genervt hat, weil die auch nicht soviel Süßzeug immer essen wollten, figurbewußt nannte man das damals, schon bekloppt – Katja hat nie erkennbar zugenommen, sie war zwar nicht klapperdürr, aber halt ... na ja stramm, verstehst du, blühendes Leben – wahrscheinlich hat sie die Extra-Energie, die sie sich in Form dieser Zuckerbomben reingetan hat, immer sofort wieder verbrannt mit dieser unfaßbaren Beweglichkeit, diesem Ganztagsfeiern, jeden Tag in jeder Woche. Sie hatte so eine Art, um die Ecke zu kommen ... Johanna, die sie auch mochte, hat immer gesagt: Das kann sonst niemand, so um die Ecke wetzen, als ob es um jede Ecke rum gleich noch mal die ganze Welt gibt, als ob man da dringend hin muß. Das war so, pöh, wie soll ich sagen, befeuernd, man wollte ihr einfach gefallen – meine ersten Sachen, die ich selber geschrieben habe, kleine Popsongs, aber immer schon mit ›langen komischen Stellen‹ in der Mitte oder am Ende, wie Katja das nannte ... die habe ich ihr zuliebe so gemacht, wie sie waren, weil sie beides mochte, wenn es catchy war und zum Mitpfeifen, aber eben auch diese sogenannten Stellen, diese atonalen oder ... Zum Abi habe ich dann alle Sachen, die ich bis dahin komponiert hatte, einfach weggeschenkt, als eine Art absichtlicher Zäsur, die Tapes und die Notenblätter und die Dateien, alles, wie um zu sagen: Das ist mein Frühwerk, ob es verschollen ist oder nicht, liegt
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