Die Abschaffung der Arten
tollkühnes Manöver, das Buch des Lebens an, um mit ihm Zwiesprache zu halten. Zum ersten Mal antwortete es nicht.
Padmasambhavas rechter Flügel war gebrochen.
Der linke hing, von den Feinden verletzt, in blutigen Streifen von ihrer Schulter. Dazu lahmte das linke Bein, und ein paar Zähne waren auf der linken Seite, vornehmlich am Unterkiefer, von einem Schwertknauf eingeschlagen. Die fehlenden würden noch stundenlang nicht nachwachsen, Biß hatte sie keinen mehr. So warf sie ihre losen Waffen von sich, stellte sich aufrecht hin, faltete die Schwingen vor Gesicht und Brust zusammen und wartete, was geschehen würde.
Die Roboter putzten den Rest der Schützengräben und der übrigen, mehr oder weniger gut befestigten Stellungen aus. Dann erst verstand Padmasambhava, die bislang damit gerechnet hatte, daß das Ganze einfach eine ungeheuer brutale Säuberungsaktion werden würde, mit der man die Grabenbewohner daran erinnern wollte, daß sie den Burgen nicht zu nahe kommen sollten, was hier tatsächlich geschah:
Man schießt nicht auf mich. Die Maschinen fliegen im Kreis, es wird überlegt, wo man landen kann und mich aufnehmen. Man will mich lebendig.
»Bist du stolz darauf, daß sie dich holen wollen?« Es war das Buch.
»Ich weiß nicht. Ist das hier ein ... Zwischenergebnis fürs experimentum ?«
»Sag du es mir.«
»Na, ich habe überlebt – survival of the fittest , wie's in der alten Sprache heißt. Sie werden mich wohl reinbringen, um mich zu untersuchen und von mir zu lernen.«
»Du meinst, ob die eine, die andere oder die dritte Schule recht hat, läßt sich ausgerechnet am Lebensweg und Schlachtenglück einer kleinen roten Echse aufweisen?«
Um darauf antworten zu können, ging Padmasambhava in einem alten Ordner ihrer Spintronik noch einmal durch, was sie über die drei Schulen wußte, zwischen deren Lehrmeinungen das experimentum crucis entscheiden sollte.
Die ersten beiden waren Vertreter des noch in der Langeweile entstandenen »Darwinismus« gewesen, einer Theorie von Replikation, Variation und Selektion, aus der die erste dieser zwei Schulen das Prinzip der adaptiven Komplexität abgeleitet hatte: Alle Eigenschaften, die sich als materielle oder Softwaredispositive einer evolutionär stabilen Strategie sowohl auf onto- wie auf phylogenetischer Ebene bewährten, trugen nach dem Muster des Wegs des geringsten Widerstands kumulativ zu einer irreversiblen Höherentwicklung, nämlich einem ständigen Komplexitätszugewinn durch neu auftretende Spezies bei.
Die zweite Schule glaubte an keinen derartigen Fortschritt, sondern betonte das löchrige, nur von Katastrophen punktierte Gleichgewicht, in dem sich die evolutionär stabilen Attribute der diversen Spezies im synchronen Vergleich stets befänden, und hielt einige neu aufkommende Eigenschaften fürs Ergebnis eben nicht einer Adaption, sondern einer Exaption , einer Nutzung von aus ganz anderen, ziemlich beliebigen Gründen einmal aufgekommenen Veränderungen durch Individuen oder Populationen, ohne daß dieser Vorgang irgendwie gerichtet wäre: reine Glücks- oder Unglückssache.
Die erste Schule warf der zweiten Blindheit gegen den Zeitpfeil und die Feinmechanik der Auslese vor; die zweite der ersten orthogenetische Romantik und Perfektibilismus.
Erst als die dritte aufkam und eine Synthese von Biologie und Informatik versprach, am äußersten späten Ende der Langeweile, hatte die Streitfrage das Niveau erreicht, auf dem es sich lohnte, einen Riesenversuch zur Klärung zu unternehmen, »und zwar am besten auf dem Mars, denn wenn wir jungfräuliche Welten schon neu besiedeln, dann wollen wir dabei doch auch was lernen« (so die Erfinderin des Plans).
Die dritte Schule hielt Selektion an sich für etwas, das weder adaptive noch exaptive Komplexität mit Notwendigkeit hervorbrachte, ja für ein im Grunde marginales Phänomen. Ihre Vertreter glaubten, ein paar basale computationale Prinzipien, besonders im Bereich einfacher Automaten, entdeckt zu haben, nach denen aus bestimmten Grundregeln der Reproduktion zwangsläufig bestimmte hochorganisierte Komplexitätsformen entspringen mußten.
Der Ursprung der Sezession der dritten Schule vom darwinistischen Hauptstrom der Entwicklungslehre hatte mit Muschelformen zu tun.
Ein kluger Vertreter einer der ersten beiden Schulen hatte mathematisch zu demonstrieren versucht, daß es zwar Tausende potentieller Muschelformen gab, aber nur sechs davon tatsächlich vorkamen, ein Beweis, so
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