Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
bekommen.
DREI
Ottilias Schicht im Krankenhaus begann um sieben Uhr, aber sie musste zwei Stunden früher aufstehen. Da es immer später hell wurde, zeichnete sich ihr Profil im künstlichen Dämmerlicht der Baustelle nur schwach vor dem Fenster ab: eine schmale, bleiche Gestalt, die sich im Zwielicht anzog. In der Küche begann der Wasserkessel gedämpft zu pfeifen.
Ich wollte Licht machen, doch der Strom war schon wieder – oder immer noch? – gesperrt. Als ich in die Küche ging, stellte Ottilia die Sporttasche mit ihren Habseligkeiten auf den Tisch. »Kannst du meine Sachen ins Schlafzimmer bringen? Geht ja schnell.« Und als sie mich lächelnd zu sich zog und küsste, sank ich in ihre Arme. Ich befürchtete, dass sich das, was abends passiert war, dem Überschwang der Gefühle und zu großer Nähe verdankte; dass sie sich von mir und meiner ungeformten Persönlichkeit abwenden würde. Sie spürte, dass ich mein Gleichgewicht verlor, und setzte mich an den Tisch.
Auf dem Weg zur Arbeit beschloss ich, Trofim zu besuchen. Der alte Mann musste einen schrecklichen Kater haben, würde sich aber bestimmt auch auf die Folgen der gestrigen Veröffentlichung von Das verratene Ideal in Paris gefasst machen. Ich würde ihn zum Mittagessen einladen, ihm von Ottilia erzählen. Wir würden in der Herbstsonne spazieren gehen, Pläne für den Fall schmieden, dass sein Buch Schlagzeilen machte …
Die Straße war gesperrt, auf beiden Seiten hatte man Checkpoints errichtet. Ich ging weiter. Die Miliz schien in Alarmbereitschaft zu sein. Ich überquerte die Straße, um Trofims Tür und Balkon besser sehen zu können. Die Fenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Als ich mich dem Haus näherte, öffnete sich die Tür und zwei Milizionäre traten mir in den Weg, begleitet von drei Securitate-Agenten. Ich fragte, was sie von mir wollten, erhielt aber keine Antwort. Die gelangweilte Miene, mit der ich ihnen meine Papiere überreichte, war nicht sehr überzeugend. Dies war keine Routinekontrolle.
»Darf ich fragen, was hier vorgeht, meine Herren? Ich möchte einen Freund besuchen, den ehemaligen Minister Sergiu Trofim. Ich helfe ihm bei der Arbeit.«
Sie schwiegen, überflogen meine Papiere, steckten sie ein. Einer der Beamten in Zivil stieß mich in einen schwarzen Dacia. Ich redete weiter. Ich sei britischer Staatsbürger, ein gewöhnlicher Besucher, und nicht in illegale Aktivitäten verstrickt … Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich, wie die Gardinen in Trofims Fenster sich bewegten. Die Männer im Auto waren Einschüchterungsprofis, die aus demselben Schoß gekrochen waren wie Stoicu und seine Leute. Sie wurden Beamte in Zivil genannt, doch ihr Zivil war eine Uniform. Sie wollten nicht unbemerkt bleiben, sondern gesehen und beachtet werden, um jeden Raum, jede Straßenecke, jede spontane Versammlung mit dem Gift unverhohlener Überwachung zu verseuchen. Sie trugen die immer gleichen Stiefel und braunen oder beigefarbenen Anzüge mit gerade geschnittenen Hosen und Pistole unter der Jacke, dazu einen genormten Haarschnitt. Leo hätte sich vielleicht über sie lustig gemacht oder durch eine spitze Bemerkung Prügel riskiert. Ich jedoch nicht. Ich hatte zum ersten Mal seit dem Abend auf dem Boulevard des sozialistischen Sieges Angst. Nicht vor einer großen Gefahr oder der Bedrohung durch das Erzböse, nein, es war die Angst eines Individuums, das in das Räderwerk der Maschinerie geraten ist.
Wir hielten nicht vor dem Hauptquartier der Securitate, sondern vor einer winzigen Kellerwohnung in der Nähe der Polizeizentrale. Die Tapeten lösten sich von den feuchten Wänden. Man führte mich zu einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Nach zwanzig Minuten kam ein ruhiger, wie ein Professor aussehender Mann herein. Er lächelte mich an und schlug eine Akte auf, offenbar die meine. Sie war schon jetzt zwei Zentimeter dick. Nach meinen vertraglich vereinbarten zwei Jahren würde sie acht Zentimeter messen und müsste in einer der Ablagekästen aufbewahrt werden, wie ich sie bei der Arbeit benutzte.
»Wir wissen alles über Ihren bisherigen Aufenthalt bei uns«, begann er. »Diese Akte enthält so viele Informationen, die wir von Ihren Freunden und Kollegen erhalten haben, dass wir Sie eigentlich gar nicht hätten beschatten müssen …« Er zeigte mir die Fotos: ich auf dem Balkon, auf meinem ersten Gang zur Arbeit, in der Mensa, mit Leo beim Verlassen des Capsia nach unserem ersten gemeinsamen Essen. Trofim und ich
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