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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Renaissencemensch im wahrsten Sinne des Wortes, als Universalgelehrter …« Er verstummte, holte tief Luft. Die Gäste brummten zustimmend; einige besonders Eifrige klatschten.
    Es folgten weitere zwanzig Minuten der Vorrede. Die Leute schwankten vor Langeweile. Leo schlich mit einer Flasche Wein wieder hinaus, während Ozeray in eine Art Trance verfiel; er schien seinen Stoffwechsel herunterzufahren wie eine Schildkröte im Winterschlaf. Ottilia stieß mich ins Kreuz, unterdrückte ein Kichern. Ich spürte, wie sie immer näher kam. Ich schob einen Arm um ihre Taille. Sie lehnte sich gegen meinen Rücken.
    Dann war Trofim an der Reihe. Er ging zum Rednerpult mit dem Parteiemblem und stellte es tiefer. Während der nächsten halben Stunde hielt er mit gesenktem Kopf eine Rede, die von den langweiligsten kommunistischen Euphemismen und Schlagworten und den abgedroschensten Jargons nur so strotzte. Weder Scherze noch Gedankenblitze, kein einziger der von allen erwarteten weltläufigen oder gelehrten Kommentare. Petrescu und einige andere Freunde Trofims aus dem Park kratzten sich nachdenklich am Kopf. Leo kratzte sich auch am Kopf. Er wirkte verdutzt, sah zu mir, zog eine Augenbraue hoch: Was soll das? Ich war ratlos und zog als Antwort ebenfalls eine Braue hoch. Ioana schüttelte den Kopf. Nur Ottilia hörte aufmerksam zu. Sie drückte meine Hand, schien einen Insiderwitz mit mir teilen zu wollen. Ich sah ihr Grinsen nicht, wusste aber, dass es immer breiter wurde. Hinten im Saal ertönte ein langes, herzhaftes Gähnen, gefolgt von einem lauten Baritongrunzen. Alle starrten Leo an.
    Trofim wusste genau, was er tat: Seine Rede war der reine Hohn. Er distanzierte sich nicht zwecks kritischer Analyse von den Konventionen, sondern befolgte sie so ehern, dass sie schließlich vom toten Gewicht ihrer eigenen bleiernen Logik in die Tiefe gezogen wurden: Subversion durch übertriebene Anpassung.
    Sobald die Gäste weg waren, führte er mich im Schein einer Taschenlampe in den Keller. Dort stand ein rumpelnder und brummender alter Kühlschrank in einer Pfütze rostigen Wassers, umgeben von Bücherbergen und Papierstapeln. Die Seiten waren angenagt, durchnässt oder verschimmelt. »Das Archiv«, kicherte er angetrunken und öffnete den Kühlschrank. Auf der einzigen Ablage lagen sechs Flaschen französischer Champagner. Ich trug sie in einer flachen Kiste nach oben, die den ausgekratzten Namenszug eines vergessenen oder in Ungnade gefallenen Schriftstellers trug.
    »Ein Geschenk von Les Belles Lettres, zur Feier der Pariser Buchpräsentation, das ich auf dem Umweg über den Ersten Konsul Ozeray erhalten habe.«
    Ozeray, dieser Altruist der Tatenlosigkeit, war also der dritte Mann im Bunde, der stellvertretend für Trofim in Frankreich mit dem Verleger verhandelt und alles organisiert hatte. Kurz vor der Küche ergriff Trofim mich beim Arm: »Nun gibt es kein Zurück mehr. Ich kann keinen Einfluss mehr nehmen … Lassen Sie uns trinken, denn ich werde bald keinen Grund zum Feiern mehr haben.«
    Ottilia und ich gingen nach Hause. Wir waren wortlos in eine Beziehung geglitten. In dieser Nacht gingen wir gemeinsam ins Bett, liebten uns stumm und mit geschlossenen Augen, drehten uns dann um und schliefen ein, jeder für sich. Der Sex mit Cilea hatte immer etwas Pornographisches gehabt: Ich sah mir selbst dabei zu, wie ich sie fickte, und sie sah mir beim Zuschauen zu. Ich musste mir der unerträglichen Lust bewusst werden, bevor ich sie empfinden konnte. Sie musste zuerst durch Augen und Gehirn gehen, gleichsam verifiziert werden. Wir waren so körperlos, als hätten wir Sex vor Zuschauern, und wir schienen uns sogar bei Alltäglichkeiten, beim Essen oder Spazierengehen, selbst zu beobachten. Das war rauschhaft, steigerte die Lust und lag vielleicht daran, dass wir ständig überwacht wurden. Was mich betraf, so war es allerdings auch ein Aspekt meiner Selbstentfremdung, des Gefühls, in meinem eigenen Bewusstsein nicht wirklich beheimatet zu sein.
    Aber nun, mit Ottilia an meiner Seite, gab es nur uns und die Dunkelheit. Dann wurde ich durch ein heftiges Schluchzen geweckt, das, wie ich merkte, von mir selbst stammte. Ottilia wachte auch auf, und als sie sich umdrehte und auf mich legte, um meinen Mund mit dem ihren zu verschließen, spürte ich, dass in mir etwas aufbrach. Es geschah wie in weiter Ferne – als würde das Eis auf einem seit langer Zeit zugefrorenen See in einem stillen Uferwinkel einen ersten Riss

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