Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Motorkade acht Monate später, es war an einem Morgen Ende Dezember, wieder durch die Stadt rollte, ignorierte ich sie. Ceaușescus »letzte Motorkade« hieß es, doch ich registrierte sie nicht. Stunden später war er entmachtet, lag wie ein abgeknallter Hund auf dem Bürgersteig, und ich sah all dies in Endlosschleife im Fernsehen, Hunderte Meilen weit weg, in Europas Wartezimmer. Es fällt schwer, keine Aura der Endgültigkeit in das Sirenengeheul seiner letzten Motorkade hineinzudeuten, denn diese Sirenen unterschieden sich von allen früheren genauso wie der letzte Atemzug von jedem vorhergegangenen:
Zuerst erstarrten die Straßen. Dann erbebten Bagger und Kräne und verharrten mucksmäuschenstill wie Tiere, die Gefahr witterten. Männer im Anzug tauchten wie aus dem Nichts von allen Seiten auf und zerstreuten die Nahrungsmittelschlangen. Dann wurde gewartet. Zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde … Schließlich erklang eine Sirene in der Ferne, anfangs leise, dann immer lauter, bis man sich die Ohren zuhalten musste. Und die Autos. Eins, zwei, drei, vier … sechs identische, schwarze Dacias mit dunkel getönten Scheiben. Bevor ausländische Würdenträger durch Bukarest gefahren wurden, trafen Polizeitransporter mit Waren ein, die in allen Schaufenstern ausgelegt wurden: Brot und Gemüse, Fleisch und Obst – Produkte, an deren Existenz die Menschen schon nicht mehr glaubten. Die Autos wurden langsamer, damit die Besucher alles in Augenschein nehmen konnten. Sobald sie weg waren, wurden die Waren eingeladen und in die Geschäfte der Partei und der Diplomaten zurückgebracht. Wenn es nur die Ceaușescus waren, rasten die Autos mit hundert Stundenkilometern auf dem leeren Boulevard dahin. Nicolae und Elena sahen es nicht gern, wenn ihre Untertanen warteten; die Stadt musste von allen Bedürfnissen, von dem würdelosen Spektakel des Mangels gereinigt werden. Parallel dazu spielte sich in anderen Vierteln Bukarests das Gleiche ab: Sirenen, Autos – Ceaușescus Motorkade und ihre Doppelgänger brausten durch die trübseligste Diktatur Europas. In einem der Autos saß Ceaușescus Hund, und sogar dieser hatte seine Doppelgänger, die Pointe eines Witzes über eine ebenso brutale wie absurde Welt, den niemand mehr über die Lippen brachte.
Da ich von der Alltagsrealität abgeschirmt war, obwohl ich immer wieder in sie eintauchte, fiel es mir ausgesprochen leicht, mich innerlich von meiner Umgebung zu lösen. In dieser Hinsicht hatte ich vor meinem Eintreffen in Bukarest reichlich Erfahrung gesammelt, und vielleicht waren dies die »besonderen Fähigkeiten«, die Leo erwähnt hatte, nachdem ich ihn unverblümt gefragt hatte, warum ich ausgewählt worden war. Trotzdem kann ich sogar rückblickend nicht erklären, wie es dazu kam, dass mein Leben und das um mich herum, mit all seinen Mängeln und Gewohnheiten, der Repression und der Gewalt, so wenig miteinander zu tun hatten. Nicht erklären? Vielleicht gegenüber anderen. Was mich betraf, so war die Sache einfach. Die Unterdrückung schafft ihre eigene Normalität, schleift sich im Alltag ab. Sie durchbricht die Oberfläche unseres Daseins, und dann schlägt unser Dasein wieder über ihr zusammen, wird verändert, aber dann auch nicht verändert von der repressiven Gewalt. Ich kaufte schon bald in den Geschäften der Diplomaten, ging im Diplomatenclub schwimmen, tanzte mit im Reigen der westlichen Partys. Ich suchte die im Stadtzentrum gelegenen pseudowestlichen Bars auf, wo Cocktails, die Parodien amerikanischer Cocktails waren, von Kellnern gemixt wurden, die Parodien amerikanischer Kellner waren. Ich gewöhnte mich an die Doppelbödigkeit dieser Stadt, an ihre Parallelwelten.
Meine Kontakte nach Großbritannien schwanden – erstens, weil ich sie nicht pflegte, zweitens durch die tatkräftige Mithilfe der rumänischen Post und Telefongesellschaft. Ich brach den Kontakt nach Hause nicht bewusst ab – es war nicht gewollt, sondern glich dem schrittweisen Losmachen von einem Kai, bis ich eines Tages unmerklich so weit auf See hinausgetrieben war, dass ich das Land nicht mehr sah. Nach einigen oberflächlichen Briefen reduzierte sich meine Beziehung zu einer jungen Frau aus dem College auf den Austausch lahmer gegenseitiger Vorwürfe und danach auf null, jedenfalls auf null Briefe. Was meine Freunde betraf, so war die Schnittmenge unserer jeweiligen Leben inzwischen so gering, dass wir in unseren Briefen nicht mehr die gleiche Welt beschrieben. Ionescu
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