Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
erlaubte mir, sein Faxgerät zu benutzen, damit ich mit dem Notar in Verbindung bleiben konnte, der sich um das sogenannte Anwesen meiner Eltern kümmerte, sowie mit Deadman & Sons, die sich brüsteten, »maßgeschneiderte Lösungen für Haushaltsauflösungen« parat zu haben. Laut Plan sollte ich ihre »maßgeschneiderte Haushaltsauflösung« im Juli leiten. Diese Aufgabe fürchtete ich mehr als die viele Miliz, die Securitate-Agenten oder die rumänischen Polizeihunde, denn falls ich endlich die von mir ersehnte frei schwebende Existenz führte, war das Haus mein letzter noch verbliebener Schleppanker.
Nach meiner Jugend kannte ich kein Heimweh, aber das Gefühl starker Befremdung hätte sich doch einstellen können, vor allem während der ersten Wochen. Ich hätte auch Angst haben können. Stattdessen erfüllte mich brennende Neugier. Hier wurde der Mangel an Wahlmöglichkeiten durch die Tatsache wettgemacht, dass jede Handlung Folgen hatte. Leo erzählte mir eines Abends: »Hier wird es dir gefallen. Der Spielraum, den man hat, ist sehr schmal, aber sehr tief …« Genau genommen wusste ich das schon, seit ich einen Fuß auf den klebrigen Asphalt des Otopeni-Flughafens gesetzt hatte.
Als ich im Oktober 1987, der Druckerstreik in Wapping war gerade zu Ende gegangen, mein Studium begann, entdeckte ich nicht etwa die Freiheit, sondern die Ziellosigkeit, eine einigermaßen glaubwürdige Illusion, der ich mich während der ersten Monate hingab. Ich bildete mir sogar ein, die geplatzten Träume meiner Eltern verwirklichen zu können. Mein Vater hatte eigentlich Journalist werden wollen, meine Mutter Lehrerin. Hätten sie einer anderen Generation angehört, dann wäre ihnen das vielleicht gelungen; hätten sie einer anderen sozialen Schicht angehört, dann hätten sie ganz sicher Erfolg gehabt.
Sie kamen ihren Zielen nahe, jedenfalls physisch, aber diese Art von Nähe lässt das Ziel noch unerreichbarer erscheinen: Er wurde Setzer, sie erhielt von der Stadt befristete Verträge für verschiedene Schulen, wo sie als Sekretärin für die Vorratshaltung zuständig war. Meine Mutter arbeitete zweimal für jeweils zwei Wochen an meiner Schule. Ich weiß noch, dass ich sie einmal in der großen Pause sah. Sie aß Sandwiches, die sie in einer Tupperdose mitgebracht hatte, saß allein da, weit weg von den festen Angestellten, die plauderten, lachten, rauchten. Ihre Hände zitterten – mein Vater hatte schon seinen Krieg gegen sie begonnen, seinen gnadenlosen, rachsüchtigen Feldzug der Geringschätzung und der Demütigungen –, und sie sah mich an, lächelte unsicher über ihr Sandwich hinweg. Sie wirkte fehl am Platz und bemitleidenswert, aber die Schule war kein Ort für Mitleid, und deshalb sah ich durch sie hindurch und ging weiter.
»War das nicht dein Sohn?«, hörte ich jemanden hinter ihr fragen. Ihre Antwort hörte ich nicht.
Sie kam nie auf diesen Vorfall zu sprechen. Wir redeten erst ein Jahr später darüber, an meinem zwölften Geburtstag, als er früher Feierabend gemacht hatte, um zu Hause saufen zu können. Sie hatte mir ein Geschenk gekauft, ein Modellflugzeug, und ich baute es gerade zusammen. Wir saßen schweigend da, ich mit dem Kleber und den Plastikteilen, er mit Zeitung, Zigaretten und Glas, und ihr Blick verlor sich wie üblich in der mittleren Entfernung; sie versuchte, reglos dazusitzen, wollte nicht schon wieder seine Aufmerksamkeit erregen. Dann begann es. Die Beleidigungen, die Beschimpfungen, die Vorwürfe, sie sei dumm und parasitär, unattraktiv und hässlich, ein nutzloses, zitterndes, erbärmliches Mäuschen von Frau .
Ich sprang ihn an, ging auf seine Augen los, und als er mir mit der Rechten eine Ohrfeige gab, schlug ich meine Zähne in seine Fingerknöchel. Ich hatte den Mund voller Blut, als er meinen Kopf an den Haaren zurückzog. Er befreite seine Hand aus meinem Biss und verpasste mir einen Schlag gegen den Hals, so bemessen, dass ich zu Boden ging und wie ein Ertrinkender nach Luft schnappte. Er stand auf, wippte auf den Fußballen und lachte uns beide aus, dann verließ er das Haus, wobei er mein halb fertiges Flugzeug zertrat und über den Teppich kickte. Meine Mutter drückte mich an sich, und das einzige, was ich in jenem Moment tun konnte, bestand darin, mich dafür zu entschuldigen, dass ich sie damals in der Schule ignoriert hatte. Es tue mir leid, beteuerte ich immer wieder, und sie behauptete steif und fest, mich gar nicht gesehen oder den Vorfall vergessen zu haben,
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