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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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aber ich wusste, dass sie log. Ich wusste auch, dass sie das vielleicht schlimmer verletzt hatte als alles, was ich je getan hatte. Ich drückte mein Gesicht auf ihren Hals, roch die Creme, die sie abends auftrug, das Waschpulver, mit dem sie unsere Kleider wusch, den Schweiß ihrer gesammelten Angst. Ich unterdrückte meine Tränen, wollte auf keinen Fall weinen. Um wen hätte ich auch weinen sollen? Nicht um mich. Um sie? Wenn ich angefangen hätte, um sie zu weinen, hätte ich nie wieder damit aufgehört, das wusste ich.
    Sie hätte meinen Studienplatz vermutlich als späte Genugtuung empfunden. Er war zornig, weil er glaubte, dass der Platz ihm zustand. Gut möglich, dass beides einen ähnlichen Ursprung hatte, aufgrund ihrer unterschiedlichen Temperamente jedoch anders empfunden wurde.
    Ich bekam ein Stipendium und hatte genug Geld zum Leben. Zum ersten Mal in meinem Leben ging es mir finanziell gut, und doch schämte ich mich dafür, denn ich bekam fast so viel Geld wie mein Vater mit seiner Arbeit, und ganz sicher mehr, als ihm die Stütze jetzt einbrachte.
    Ich studierte Politik, obwohl »studieren« nicht das passende Wort ist: Ich saß in Lesungen über politische Theorie, behielt nur die Schlagworte und ignorierte die ihnen zugrundeliegenden Gedankengänge. Ich stürzte mich in etwas, das mir anfangs wie das Leben vorkam. Ich verkaufte sogar den Socialist Worker vor Einkaufszentren, bis mich seine Mischung aus Trotz und Wut und diese selbstzerstörerische Streitlust, hinter der sich tiefste Bedeutungslosigkeit verbarg, krank zu machen begannen. Die Pöbeleien von Passanten waren mir lieber als die widerlich großzügigen Schuldgefühle der wenigen, die die Zeitung kauften, nie lasen und, wenn sie glaubten, dass gerade niemand hinsah, einige Straßen weiter im Mülleimer versenkten.
    Nachdem ich zu der Einsicht gelangt war, dass man Politik nicht studierte, um die Welt neu zu erdenken, sondern um den Status quo rechtfertigen und aufrechterhalten zu können, wechselte ich zu Kunstgeschichte und verbrachte meine Tage damit, Museen zu besuchen und in Katalogen zu schmökern. Ich rede mir gern ein, dass dies etwas Vages und Ungeformtes in mir weckte – eine Sehnsucht nach Schönheit sowie den Wunsch, diese zu genießen, ohne sie besitzen oder zerstören zu wollen, und außerdem die Möglichkeit, über extreme Gefühle zu reden, ohne preiszugeben, dass es die meinen waren. All das mochte mit hineinspielen, aber am meisten genoss ich den Gedanken an meinen Vater, der sich ereiferte, weil ich meine Zeit und sein Geld vergeudete – er sah sich zeitlebens als die leibhaftige Verkörperung jener modernen Christusfigur, des Steuerzahlers –, indem ich mich nutzlosen, weltflüchtigen und wahrscheinlich homosexuellen Zerstreuungen hingab. Während eines Wochenendbesuchs brachte ich den Mut auf, über ein Gemälde zu reden, und benutzte dabei das Wort wunderschön . Er verschluckte sich am Essen, wischte sich den Mund ab und stand vom Tisch auf.
    Der Höhepunkt meines ersten und, wie sich herausstellte, einzigen Jahres an der Universität bestand in einer Nacht im Gefängnis. Ich hatte einen Pendler tätlich angegriffen, der am Trafalgar Square in der U-Bahn über mich hinweggestiegen war und dabei auf mein Buch gespuckt hatte. Als ich aufsah, grinste er breit, ein schmieriger Typ im schicken Anzug, mit Aktentasche und witziger Krawatte, typisch für die während der achtziger Jahre beliebten Accessoires, die auf moderate Art Individualismus ausdrückten, ohne den guten Ruf als »Teamspieler« zu beschädigen. Ich riss an der Krawatte, die Rugbybälle und Bierflaschen vor dem Hintergrund eines grünen Rasens zeigte, und sein Kinn senkte sich haargenau bis zu jenem Punkt hinab, wo es von meinem Knie getroffen wurde. Er zeigte mich wegen Körperverletzung an, und er hatte Zeugen. Ich wurde verwarnt und war vorbestraft. Mein Vater war ein paar Tage stolz auf mich. Ich hatte eine jener sinnlosen, autoaggressiven Taten begangen, die Menschen wie uns für einen kurzen Moment das Gefühl gaben, auf der Siegerstraße zu sein, unsere Brust schwellen ließen, wenn wir im Pub einen tranken oder für die Stütze anstanden. Meine erste Gewalttat. Der halbe Weg zu deinem ersten Fick , wie sich mein Vater ausdrückte, der dadurch etwas über seine Weltanschauung verriet.
    Ein paar Monate später brach mein Vater, der seit einem Jahr arbeitslos war, von der Stütze und von Zuwendungen lebte und immer wieder Blut spuckte, im

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