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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Gedanken gewöhnen konnten, sie zu verlieren. Das war bezeichnend für sie – der sanfte Abschied.
    Was meinen Vater betraf, so lernte ich, ihn zu hassen, und dieser Hass gab mir Kraft. Nur konnte ich darauf kein Leben aufbauen, jedenfalls kein eigenes. Deshalb entdeckte ich die Vergebung samt ihrer verborgenen Bosheit: Die Menschen vergeben nicht aus Großmut, sondern um sich zu befreien. Der Vergebende gleitet gelöst dahin, und derjenige, dem vergeben wurde, rutscht ein Stückchen tiefer Richtung Hölle. Ob es daran liegt, dass so viele Religionen die Vergebung als Geheimwaffe benutzen? Ich vergab ihm und sorgte dafür, dass er dies erfuhr. Ich stand ihm bis zu seinem Tod zur Seite. Ich brach das Studium ab, verließ meine Studentenbude mit drei Plastiktüten voller Bücher und Kleider und stieg in die Bahn nach Wapping, kehrte in unser Haus zurück, in das Wohnzimmer, wo er in seinem Lieblingssessel saß, eine schwarze Sonne, um die sich alles drehte. Ich besuchte ihn täglich im Hospiz; ich hielt seine Hand und las ihm die Zeitung vor, während er mit verengten Augen Schriftgröße und Abstände zwischen den Buchstaben bemaß, Einzüge und Seitenränder mit seinem allmählich erlöschenden Expertenblick taxierte. Ich zeigte ihm, welcher Mensch er hätte sein können. Man trägt seinen Vater nicht jeden Tag zu Grabe … Ich hatte meinen mit jedem Tag ein bisschen tiefer begraben.
    Während der Krawalle in Wapping, ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter, half ich meinen Klassenkameraden nach der Schule, die Pferdeäpfel der berittenen Polizei einzusammeln, weil ihre Großväter damit ihre Schrebergärten in den Docklands düngen wollten. Die Beutel dampften in der Kälte, und unsere Rücken wurden nass, während wir, unter der Last schwankend, Pflastersteine und Scherben umgingen, weggeworfene Transparente und die von Wasserwerfern hinterlassenen Pfützen. Die Ernten der Jahre 1986 und 1987 waren prachtvoll, alles strotzte nur so von Gemüse, und die alten Männer bewachten ihre Gärten, weil man Bulldozer in Marsch gesetzt hatte, um die Docklands zu entwickeln, zu parzellieren und danach im neuen Englisch der Dienstleistungsindustrie zu benennen: »Enterprise Quay«, »Atlantic Projects«, »Sterling Wharf«. Dazu die Witze: Die Gurken waren so hart wie Schlagstöcke, die Salate standen in Reih und Glied wie Schutzschilde, das Wintergemüse war so scharf wie Tränengas.
    »Eines führt zum anderen«, sagte mein Vater immer, wenn er wie an jedem Tag, egal wie das Wetter war, im Wohnzimmer das Fenster öffnete. Die Scheibe war so oft kaputtgegangen, dass er schließlich eine Spanplatte daraufgenagelt hatte. Vor seinem ersten Schluck ertappte ich ihn hin und wieder beim Philosophieren – er redete keinen Unsinn, das nie, klang aber hilflos. Irgendwann zwischen dem Öffnen der Flasche und dem Plätschern des ersten Whiskys im Glas erkannte ich auch manchmal jenen Mann wieder, der einmal gesagt hatte, dass man die Welt erst verändern könne, wenn man wisse, wie sie funktioniere. »Eines führt zum anderen: Eine Reihe Karotten aus Paddys Schrebergarten führt durch das Arschloch eines Polizeipferdes bis in die Downing Street Nummer 10.«
    Ja, unser Familienleben war eine sehr gute Schule in Sachen Totalitarismus: der Kampf um kleine Freiheiten, die Übung darin, dem Radar der Bosheit und der Verbitterung zu entgehen. Wahrscheinlich gab es kaum jemanden, der in das Rumänien Ceaușescus gereist war, um zum ersten Mal die Freiheit zu kosten.
    Leo starrte mich an, während ich all dies erzählte. Ich hatte es eigentlich für mich behalten wollen. Ich hatte es noch nie erzählt, jedenfalls nicht auf diese Weise; ich zitterte beim Sprechen, erschrak sowohl über meine Kälte als auch über meine Zerbrechlichkeit. Ich glaubte kurz, er wollte mir sein Leben erzählen, mich darüber aufklären, wie er hier gelandet war. Stattdessen sagte er nur: »Mein Gott! Wir haben gehofft, du wärst … ich weiß auch nicht – ein unbeschriebenes Blatt.«

VIER
    Leo unterrichtete tagsüber, machte nachts Geschäfte und arbeitete in seiner Freizeit an seinem Buch über Bukarest. Je länger ich ihn kannte, desto besessener schrieb er. Er schaffte es nicht, mit der Auslöschung der Stadt Schritt zu halten. Der Abriss ging schneller vonstatten, als er ihn beschreiben konnte. Während seines achtjährigen Aufenthalts hatte er miterlebt, wie fast ein Viertel der Fläche des alten Bukarests vernichtet worden war: Kirchen, Klöster, Privathäuser

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