Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Überreste neu erbauen, die seine Wohnung aus allen Nähten platzen ließen? Ob Ikonen, Gemälde, Pflastersteine oder Ladenschilder, alles war etikettiert, registriert und in Regale eingeordnet worden; dazu Kleider und Schmuck, alte Spiegel und Straßenschilder … Ein Perlmuttkästchen mit dem knochigen Finger eines namenlosen Heiligen stand auf dem einzigen nicht antiken Einrichtungsgegenstand in Leos Wohnzimmer: ein monströser Kabinettsschrank mit Rauchglasscheiben, der einen topmodernen Fernseher, eine Hi-Fi-Anlage sowie einen Videorekorder enthielt.
Fotos der Zerstörungen bedeckten die Wände, geknipst von Leo, und zwar nicht nur in Bukarest, sondern auch außerhalb, denn in ganz Rumänien fielen historische Städte und uralte Dörfer den architektonischen Pogromen Ceaușescus zum Opfer. Mit Unterstützung seines Netzwerks von Informanten sammelte Leo überall im Land Beweise, die er europäischen und amerikanischen Nachrichtenagenturen zuspielte. Die Zeitungsausschnitte – aus Le Monde , The Times , Die Zeit – bewahrte er auf seinem Schreibtisch in Sammelalben auf. Daneben stand ein Regal mit Videos, alles Actionfilme und Horrorstreifen samt Fortsetzungen, Vorgeschichten und Nachahmungen: Rocky , Rambo , Freitag der 13. , Indiana Jones . Die Kassetten in den Hüllen waren mit Datum und Ort versehen. Es waren Filme, die Leo oder andere aufgenommen hatten und die dokumentierten, wie Dörfer und städtischen Straßenzüge, wie Kirchen und Klöster niedergewalzt worden waren.
Seine Wohnung war zum verborgenen Gesicht der Stadt geworden, glich dem Bildnis des Dorian Gray: Das alte Bukarest mochte verschwinden, aber in Leos Wohnung erstrahlte es auf engstem Raum in all seiner Pracht.
»Orte wie dieser«, sagte Leo eines Abends zu mir und zeigte auf eine kleine, mit Glas überdachte Ladenarkade in Lipscani, »Orte wie dieser sind in ihrer Existenz genauso bedroht wie die Regenwälder oder die Galapagosinseln …« Eine Doppelreihe winziger Werkstätten unterschiedlichster Handwerker wand sich im scharfen Bogen nach links und mündete schließlich auf ein streng durchgeplantes Areal, wo alle Geschäfte eine Nummer trugen. Vor sechs Jahren war dies ein mit Steinen gepflasterter Hof samt Springbrunnen und Straßentheater gewesen; hier hatten sich alle Musiker Bukarests, von Studenten des Konservatoriums bis hin zu durchziehenden Roma, getroffen und improvisiert. Leo behauptete, sie immer noch hören zu können. Er legte mir eine Hand auf den Arm. »Spitz die Ohren«, flüsterte er und schloss die Augen. In solchen Momenten versank er in einer Trance, schwelgte in etwas, das für ihn immer noch Realität war. Sein Glaube, dass entschwundene Orte weiterlebten, war durchaus echt.
In einer nahen Bäckerei waren die Lichter an, und der Duft aufgehender Hefe und heißer Öfen lockte Menschen an, die bereit waren, draußen zu übernachten, um ein frisches Brot zu ergattern. Es war nach Mitternacht, und wir orientierten uns in den dunklen Straßen anhand einer Karte aus dem Jahr 1920. »Auf diese Weise kann man das, was noch da ist, mit dem vergleichen, was nicht mehr da ist«, sagte Leo. »Man läuft ab, was von den Straßen übrig ist, und hört dabei die Geräusche der Vergangenheit. Nur das genaue Hinhören bringt alles zurück.«
Wir benutzten immer alte Stadtpläne oder Reiseführer, ob aus den 1890er, 1940er oder 1960er Jahren. Leo, ein Okkultist dieser Stadt, war der Ansicht, das jede Epoche für kurze Zeit wieder zum Leben erweckt werden konnte. In Ceaușescus Bukarest überquerten wir dunkle und kalte, mit Marmor kitschig gepflasterte Plätze, geleitet von einem Stadtplan, der uns geschäftige Straßen mit Cafés und Varietés vorgaukelte. Wir liefen einen breiten, nagelneuen Boulevard ab, bewegten uns laut des Plans aber durch ein Gassengewirr, eingezwängt zwischen zwei Blocks im Brauereiviertel. Ringsumher gab es nur das eintönige Raster menschenleerer Hauptstraßen, aber laut Leo streiften wir mit den Schultern die feuchten Wände einer ruelle , wichen Scherben aus und hatten Qualmgestank und Hopfendünste in der Nase. Er markierte seine verlorenen Wege auf den neuen Stadtplänen, zeichnete die alten Straßen und Gebäude auf den weitläufigen, leeren Flächen und der unbarmherzigen Symmetrie ein, plante seine Routen. Nach einer Weile glichen die Pläne geologischen Diagrammen, die die Zeit nach Schichten bemaßen und auf denen alle unwiderruflich vergangenen Epochen gleichzeitig existierten.
Während
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