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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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und öffentliche Gebäude. Sie überlebten in Reiseführern und Memoiren sowie in den Notizen und Fotos, die sich auf Leos Esstisch türmten und darauf warteten, in Prosa umgesetzt zu werden. Diese hatte sich in einem Bruchteil der Zeit, die für einen solchen Stilwechsel eigentlich nötig war – Monate, Wochen, manchmal Tage –, von einer aktuellen Beschreibung zu Erinnerungsliteratur gewandelt. Leo hatte ein Handbuch für Reiseveranstalter begonnen; nun schrieb er eine urbane Elegie, ein Requiem für eine Stadt, die Stein um Stein verschwunden war und immer weiter verschwand.
    Leo hatte einen Stadtplan von Bukarest, einen Quadratmeter groß und von Strichen und bunten Stecknadeln übersät, auf einer Korktafel befestigt. »Die roten Nadeln stehen für Wege, die ich gegangen bin, die blauen für Wege, die ich noch nicht gegangen bin, und die schwarzen für solche, die nicht mehr gangbar sind – die verlorenen Wege.«
    » Die Stadt der verlorenen Wege … Soll dein Buch wirklich so heißen?«
    Die fertigen Seiten, quartier um quartier im Index erfasst, stapelten sich auf dem Esstisch. Ich las die Namen laut vor: Dorobanti, Dudesti, Herastrau, Lipscani …, während Leo jene Seiten suchte, die meinen Wohnort beschrieben. Er gab mir ein getipptes Blatt, dessen Seitenränder mit roten Linien und Pfeilen markiert waren:
    Hinter der Aleea Alexandru reihen sich die Häuser der osmanischen Kunsthandwerker aneinander, deren Läden und Gerbereien auf der anderen Straßenseite sowie etwas weiter entfernt in der Strada Rabat zu finden sind. Königin Marie von Rumänien, die regelmäßig verkleidet die Stadt durchstreifte, suchte diese Händler immer wieder auf. Die kleine, östlich davon gelegene Moschee mit dem ältesten Minarett Bukarests stammt aus dem späten sechzehnten Jahrhundert. Hundert Meter weiter westlich stehen sich die Kirche St. Cyril und Methodias und die lutherische Kirche der deutschen Kolonie gegenüber. Das Gebäude daneben, das aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende Hotel Particulier, früher im Besitz der Familie Cazanu, ist heute Sitz der Künstlergewerkschaft.
    Eine lutherische Kirche war mir unbekannt, und obwohl ich nicht jede Straße und jeden Platz erkundet hatte, konnte ich mich nicht daran erinnern, in der dicht gedrängten, von Baukränen durchsetzten Skyline, die ich von meinem Balkon aus sah, jemals einen Kirchturm erblickt zu haben. Was die Moschee und die osmanischen Werkstätten betraf, so war nicht einmal mehr zu erahnen, wo sie gestanden hatten; das einzige, was entfernt an ein Minarett erinnerte, war der Schornstein der Verbrennungsanlage der parteieigenen Klinik. Aber die Umgestaltung der Stadt hatte die Bilder, die Menschen wie Leo in Erinnerung hatten, nicht auslöschen können; ihr nostalgisches Gespür für die alte Stadt glich dem Phantomschmerz eines Beinamputierten.
    Die Hälfte der Informationen, die dieser Absatz enthielt, war mit Rot durchgestrichen worden. Daneben hatte Leo trotzig und in der Kurzhand eines Lektors das Wort STET gesetzt – einzig und allein die Wörter standen noch; nur sie bewahrten die Erinnerung an den Ort.
    Von dem Geld, das Leo auf dem Schwarzmarkt verdiente, kaufte er Bücher, Gemälde und Ikonen. Er durchkämmte zur Zerstörung verurteilte Häuser, kaufte den Abrissarbeitern Kunst und Möbel gleich bergeweise ab, fuhr mit dem Leutnant in einem als Rettungswagen getarnten Transporter durch die Stadt, um die Schätze aus den zum Untergang verdammten Gebäuden zu bergen, bevor Abrissbirnen und Bulldozer eintrafen. Was er nicht behalten wollte, tauschte oder verkaufte er an einem geheimnisvollen Ort, an dem ich nie gewesen war und den er immer nur »Laden 36« nannte. In diesem, besser bekannt unter dem vielsagenden Spitznamen le magasin de l’ancien régime , wurde der Abfall des alten Rumäniens an Touristen, Gangster und Parteichargen verscherbelt.
    Alles, was ringsumher der Zerstörung anheimfiel, schien in Leos Wohnung zu landen, ein Wirrwarr von Gegenständen, die aus ihrem Kontext gerissen waren: ob Kandelaber, die nicht zueinanderpassten, antike Stühle oder erotische Fotos, ob ungerahmte Gemälde oder bloße Rahmen. Dieses kostbare, von Leo geborgene Treibgut füllte jede freie Fläche und Schublade, quoll über jede Kante. Der Paläontologe Cuvier war imstande gewesen, eine ausgestorbene Spezies anhand eines Schienbeinsplitters oder Oberschenkelknochens zu rekonstruieren. Konnte Leo das alte Bukarest auf Grundlage all jener schillernden

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