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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Schlussfolgerung nahelegte, dass in jenen Ländern, die am häufigsten Thema waren, eine relativ harmlose Unterdrückung herrschte. Man sprach über den Eisernen Vorhang, als würde es nur einen geben, aber das kommunistische Osteuropa war ein eigenes System der Abschottungen, Vorhang um Vorhang. Im Kosmos der Comecon war Rumänien der dunkle Planet.
    Die paar Zeilen im Kurzmeldungsteil der Zeitungen – hier ein plattgewalztes Dorf, dort eine niedergeschlagene Hungerrevolte – verdeutlichten, wie hermetisch die Welt Rumäniens abgeriegelt war, und zwischen diesen Zeilen war die erstickte Stimme der Gerüchte und Munkeleien zu hören, verzerrt und rauschend und immer wieder abreißend wie eine schlechte Telefonverbindung. Das war die Geräuschkulisse unseres Alltags.
    Ich bekam weiter stumme Anrufe. Manchmal zwei oder drei pro Tag, manchmal eine ganze Woche keinen einzigen. Das Knistern und Knacken in der Leitung verdankte sich den dazwischengeschalteten Abhörgeräten, und ich hörte jedes Mal den zögernden, ruckelnden Atem des Anrufers. Einmal hätte er – ich wusste, dass es ein Mann war – beinahe etwas gesagt: Da war irgendetwas, ein Name, ein Wort, der Hauch einer Stimme.
    Nachmittags ging ich durch den Herastrau-Park oder in die Museen. Das Museum der Kommunistischen Partei Rumäniens beherrschte sie alle – ein bombastisches, katakombenartiges Gebäude, in dem Tag und Nacht Licht brannte, obwohl der Strom immer wieder abgestellt wurde. Die Museen für rumänische Geschichte, Naturkunde und Wissenschaften wirkten daneben dunkel und winzig. Das Parteimuseum warb für eine Schau über den »Heldenmut der Familie« und zeigte eine Dauerausstellung von »Omagiu«, des Conducătors und seiner Frau.
    Das Naturkundemuseum bot Anregenderes: eine Ausstellung mit dem Titel »Evolution und Aussterben«, deren Plakat eine skeptisch dreinschauende Riesenechse zeigte. Ich hatte die Ausstellung zweimal besucht, und ihr Plakat hing in meinem Büro.
    Um Energie zu sparen, fasste man die Besucher zu Gruppen zusammen, knipste das Licht beim Betreten eines Saales an und beim Verlassen aus; das Klacken der Schalter hallte in den hohen Räumen. Man meinte, von einer Flut des Dunkels verfolgt zu werden, die hinterrücks alles verschlang. Wenn man an den Mammut- und Brachiosaurierskeletten vorbeikam, deren Knochen mit Drähten oder Scharnieren verbunden waren, die den Schädel reckten und die Mäuler zu stummen Schreien aufrissen, so spürte man das Tempo, mit dem die Vielfalt schwand, begriff, dass die Welt ihre Verluste nicht einmal annähernd ausgleichen konnte.
    Die modernen Parks in Bukarest sahen aus wie mit der Dampfwalze planiert. Sie waren mit winzigen Sträuchern bepflanzt, und die sorgfältig arrangierten Bänke verbanden maximale Exponiertheit mit maximaler Unbequemlichkeit. Man hielt sich nie lange an einem Ort auf, weil man stets das Gefühl hatte, auf allen Seiten mit Argusaugen beobachtet zu werden. In den Springbrunnen herrschte Dürre. Unterwegs kam man an Statuen harmloser Toter vorbei: Komponisten und Dichter, Wissenschaftler und Historiker, durch diese anonymisierenden Denkmäler dem Vergessen entrissen. Stalin nannte sie die ungefährlichen und nützlichen Toten , und er fügte ihnen hemmungslos immer neue Namen hinzu.
    Die älteren Parks und Gärten waren hübscher. Der Parcul Kiseleff, abseits der Straße gelegen und meiner Wohnung am nächsten, glich einem Wäldchen mit vielen Kieswegen und einem Baldachin aus Laub. Kleine und intime Orte der Ungestörtheit wie diesen fand man in Bukarest bestenfalls noch in den wohlhabenden, von Ausländern, Parteikadern und Angehörigen der dezimierten Bourgeoisie bewohnten Vororten. Die Freizeit der allermeisten Rumänen war knapp bemessen und wurde polizeilich überwacht; die Tentakel des Regimes reichten bis in die trägen Mußestunden.
    Die Alten genossen das Privileg ihrer Bedeutungslosigkeit. Ich blieb wiederholt stehen, um sie zu beobachten: höfliche, adrette kleine Männer, die grüßend eine Hand an den Hut legten, wenn Damen vorbeigingen, oder darum wetteiferten, den Platz für eine noch ältere oder gebrechlichere Person zu räumen. Die Frauen hatten Tee in Thermoskannen und mit Bändern verschnürte Gebäckschachteln dabei, schüttelten den Kopf, schmetterten unziemliche Vorschläge mit »Ts-ts-ts« ab, lachten über vertraute Scherze. Manche unterhielten sich auf Capsia-Französisch , einer gediegenen, förmlichen, knarzigen Sprache. Pensionierte

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