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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Schönheit – davon gab es genug, und Cilea war nicht von der massentauglichen Gefälligkeit eines Catwalk-Models oder Playboy-Püppchens. Ihr Gesicht war dunkel, und ihre Augen waren stürmisch und gleichzeitig abweisend. Sie war braun gebrannt, ihr Mund knallrot geschminkt, ihr Haar so glänzend schwarz wie eine Politbüro-Limousine. Fesselnd wäre das treffende Wort für diese Mischung aus Sinnlichkeit und Unberührbarkeit gewesen, nur dass wir es in einem Polizeistaat ungern benutzten. Dazu kam die Art, wie sie die besten und neuesten westlichen Kleider trug – nicht wie die anderen blasierten Amateure, die ihre Labels heraushängen ließen, sondern lässig und als könnte sie auf einen unerschöpflichen Vorrat zurückgreifen. Sie wirkte wie jemand aus einer anderen Epoche und einem anderen Land: aus dem Italien oder dem Frankreich der sechziger Jahre, aber mit der Kaufkraft der USA der späten Achtziger. Sie fiel jedem auf, war allen bekannt. Als sie hereinkam, verlor ich den Faden, kämpfte mich durch den Rest der Vorlesung, und mein Blick zuckte immer wieder über die leeren Bankreihen bis zu ihr.
    Hinterher bedankte sie sich für meine Empfehlung. Ich kam mir vor wie ein Tölpel, hätte es vorgezogen, wenn sie während einer Lyrik-Vorlesung oder eines Kurses über den modernen Roman aufgetaucht wäre, weil ich dann nicht wie ein besserer Grammatikpauker gewirkt hätte. So standen die Schlagworte des abgedroschenen Genres namens »aktueller Essay« hinter mir auf der Tafel: abschließende Analyse; einerseits/andererseits; man könnte einwenden, dass … Niemand schrieb so, außer auf internationalem Englisch, jener durch das Sieb von Neutralität und Kompromiss gefilterten, bis zur Banalität gereinigten Sprache irgendeiner Kommission.
    Wir gingen auf einen Kaffee in die triste Kantine. Es war zwar ihre Heimat, aber sie gab mir das Gefühl, diesen Ort vor ihr rechtfertigen zu müssen, obwohl sie – das ahnte ich wohl schon damals – Teil jenes Systems war, das ihn zu dem gemacht hatte, was er war.
    Die Schlange reichte vom Eingang bis zur Kasse, obwohl das Warten durch nichts belohnt wurde. Wenn sich irgendwo eine Schlange bildete, stellte man sich an. Der einzige Kaffee, den es hier gab, war eine dünne, fade, unter dem Namen Ersatz bekannte Brühe, die jedes Mal anders schmeckte, weil sich die Zutaten ständig änderten. Studenten, die ich gut kannte, wichen uns aus und wandten den Blick ab.
    Wir warteten. Unser Smalltalk schrumpfte zur Einsilbigkeit zusammen. Nachdem wir unseren Ersatz endlich bekommen hatten, zog Cilea schon beim ersten Schluck ein Gesicht und schob die Tasse weg.
    »Sie müssen sich bei Ionescu bedanken«, sagte ich. »Er hat die Empfehlung aufgesetzt. Ich habe nur unterschrieben.«
    »Ich weiß. Aber ohne Ihre Einwilligung hätte er das nicht getan.«
    »Ich habe nur eingewilligt, weil er mich gezwungen hat. Ich kenne Sie nicht. Sie sind hier nicht einmal eingeschrieben.«
    »Stimmt. Aber es hätte sonst keiner Ihrer Studenten das Visum erhalten, und Sie hätten Ihre Empfehlung umsonst verfasst. Ionescu war pragmatisch: Entweder man füllt die Formulare vorschriftsgemäß aus und verschwendet das Stipendium an jemanden, der es nicht nutzen kann, oder man schummelt ein wenig, damit das Stipendium an jemanden geht, der etwas davon hat. Ich bin gefahren, und ich hatte etwas davon.« Cilea zündete eine englische Zigarette an, noch etwas, das sie von ihrer Londonreise gehabt hatte.
    Sie sah auf die Uhr: Sie hatte Dringendes zu erledigen . Ihr Englisch fiel auf, denn es war das einer Person, die oft nach Großbritannien reiste, zeitgemäß und spritzig und nicht das steife Geplapper, das man hier anhand der Grammatiken aus dem Kalten Krieg studierte. Die Mehrzahl meiner Studenten würde Rumänien nie verlassen, aber Cilea war anders. Sie kannte die Namen von Konsumgütern, von deren Existenz hier niemand etwas ahnte; sie hatte Italien, Frankreich und Spanien besucht und sogar ein Semester in Boston studiert, dies mit einem Stipendium, das die Chancen benachteiligter Studenten aus Osteuropa verbessern sollte. Sie erzählte viel von amerikanischen Filmen, europäischem Essen, den Theatern im West End, verriet aber nie, woher ihr Geld kam oder was sie tun musste, um dieses Leben führen zu können, wohlhabend und fern des in Rumänien herrschenden Elends. Doch sie versteckte das nicht, und nachdem ich einen Einblick in ihr Leben erhalten hatte, wusste ich immer noch nicht, ob sie eine

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