Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
Vom Netzwerk:
Technokraten, Ex-Apparatschiks, bonjouristes aus präkommunistischen Zeiten … Die Polizei hielt ihre Überwachung für überflüssig.
    Eines Nachmittags kam ich an einem alten Herrn vorbei, der mich mit einem Wink seines Stocks anhielt.
    »Où habitez-vous?« , fragte er. Wo wohnen Sie? »Ah, ça tombe bien, je vous accompagne, ce n’est pas loin de chez moi.« Das trifft sich gut; ich begleite Sie, denn ich wohne ganz in der Nähe.
    Er stellte sich vor – Sergiu Trofim – und gab mir die Hand. Sie war klein, trocken und voller Altersflecken, und der Goldring mit dem großen Türkis, den er am Ringfinger trug, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Stümpfe von Zeige- und Mittelfinger. Er trug alte Manschettenknöpfe von Dior an den Ärmelaufschlägen.
    »Mon plaisir« , sagte er mit angedeuteter Verbeugung, als ich meinen Namen nannte. Trofim begrüßte jeden wie einen alten Bekannten; man hatte das Gefühl, auf dem eigenen guten Ruf wie auf einer Welle auf ihn zuzugleiten.
    Er trug ein altes, emailliertes Parteiabzeichen. Die neuen aus Plastik waren doppelt so groß und schreiend scharlachrot. Trofims war von einem diskreten, verwitterten Karmesinrot, und in einer anderen Gesellschaft hätte man gesagt, er habe Klasse . Seine übrige Erscheinung passte dazu: ein sauberes weißes Hemd, ein dunkelgrauer Anzug mit Hosenumschlag, rote Hosenträger und auf Hochglanz polierte Schuhe. Oben war er kahl, aber er hatte weißes Haar an den Seiten – dégarni , wie die Franzosen sagen, schmucklos – und trug einen Filzhut, in dessen Band ein Bleistift statt einer Feder steckte.
    Ich musste meine Schritte für ihn verlangsamen, doch sein behäbiger Gang schien keiner Gebrechlichkeit, sondern dem Wunsch geschuldet zu sein, unser Gespräch in die Länge zu ziehen.
    Trofim war ein aufmerksamer Gesprächspartner; er lauschte meinen Antworten und erbat meine Meinung zu Themen, mit denen ich mich nicht auskannte, über die ich aber brennend gern Bescheid gewusst hätte. »Sagen Sie …« So begann er jede Frage. Seine Taktik bestand darin, einem das Gefühl zu geben, dass man ihm inhaltlich voraus war, und einen danach zu zwingen, dem Bild zu entsprechen, das er von einem hatte. Auf diese Weise brachte Trofim immer die bessere, weisere Seite seines Gegenübers zum Vorschein. Er redete mit mir wie mit einem Diplomaten, der von einer langen Auslandsmission zurückgekehrt war, sein Smalltalk schien die ganze Welt zu umspannen: Von Staatsmännern sprach er wie von Bekannten, von globalen Ereignissen, als hätte er sie miterlebt. In manchen Fällen traf das sogar zu, wie ich im Laufe meiner wöchentlichen Besuche in seiner Wohnung erfuhr, nicht weit vom Naturkundemuseum, das er schlicht Chez les dinosaures nannte. Hinterher begleitete ich ihn in den Park, wo seine Freunde saßen und plauderten und wo er mit seinem Freund Petrescu, dem Ikonenmaler, Schach spielte. Petrescu, groß und hager und ganz in Schwarz, trug ein schweres Kruzifix um den Hals. Die ausgestorbenen Arten , sagte Trofim immer mit Blick auf die Plastik des Mammuts auf dem löcherigen Museumsrasen, ich denke, sie schaffen Platz … Ich glaubte lange, er würde sich selbst meinen.
    Am Tag unserer ersten Begegnung hielten wir vor einem Haus in der Strada Herastrau, einige Straßen von meiner Wohnung entfernt. Vor dem Tor stand ein cremeweißer Citroën DS. »Mein schönster Besitz. Mit diesem Wagen bin ich 1968, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, von Paris nach Bukarest gefahren. Ich habe zwei Jahre nicht mehr an seinem Steuer gesessen. Er wartet auf Ersatzteile … genau wie ich«, sagte Trofim lachend und hob die verstümmelte Hand. Das Auto war staubig, der Lack klebrig vom Saft der Bäume. Ein Baedeker über Bukarest aus dem Jahr 1929 lag auf dem Armaturenbrett. Die Leute hier schienen Führer für jede Epoche zu haben, nur nicht für die, in der sie lebten.
    Trofim bemerkte meinen Blick. Er öffnete die Beifahrertür des DS, griff nach dem Baedeker und gab ihn mir.
    »Ein Geschenk für Sie. Die Karten werden Ihnen sicher nicht mehr viel nützen. Betrachten Sie ihn als urbanes Andenken an eine Welt, wie Sie Ihr Freund Leo bewohnt.«
    Später saßen wir in Trofims Wohnzimmer. Drei Wände waren auf ganzer Höhe und Breite mit Büchern bedeckt, die vierte mit Gemälden und Fotografien. Trofim mit Trotzki, Trofim mit Victor Serge, Trofim mit Diego Rivera, Trofim bei einer Heldenparade der tragischen Linken. In ihrer Aura arbeitete er an einem kleinen

Weitere Kostenlose Bücher