Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Schreibtisch vor dem Balkon, während seine Sekretärin, ein graugesichtiger Bussard mit der grimmigen Miene des sozialistischen Realismus, am Esstisch auf einem teuren Computer tippte. In der Ecke dampfte ein Samowar mit Tee.
Während meines zweiten Besuches erklärte Trofim mir seine missliche Lage. »Ich schreibe meine Memoiren. Sie tippt jeden Tag, was ich diktiere, und dann werden die Seiten abgeholt, um … sagen wir: lektoriert zu werden. Wenn ich sie dann zum Korrekturlesen zurückerhalte, steht etwas ganz anderes darauf. Man raubt mir meine Geschichte. Kennen Sie Freuds Psychoanalyse, die allein deshalb heilsam ist, weil man einen aufmerksamen Zuhörer hat? Nun, hier hört immer jemand zu; wir leben also in einem freudianischen Zustand. Das ist die kommunistische Gesprächstherapie, und sie heilt mich von meinem eigenen Leben. Ich werde täglich von meiner gefälschten Vergangenheit eingeholt. Kennen Sie den alten Witz: Im Kommunismus steht die Zukunft fest, aber die Vergangenheit ist ständig in Veränderung begriffen?«
»Ich bekomme meinen Originaltext nicht wieder«, klagte Trofim, »und wenn man mir den Text zurückbringt, ist es nicht mehr der meine.« Ich ging zu seinem Computer, dessen Bildschirm das Menü mit den Optionen zeigte. Seine Sekretärin kopierte den Text auf eine Diskette und verschob danach alles, was sie bis dahin geschrieben hatte, in den Papierkorb. Aber sie wusste nicht, dass auch der Papierkorb geleert werden musste und dass sich die Dateien noch auf der Festplatte befanden. Sie benutzte den Computer wie eine Schreibmaschine mit Gedächtnis. »Passen Sie auf«, sagte ich und ging mit dem Cursor auf den Papierkorb. Ein Doppelklick, und da waren sie – alle Originalkapitel. Ich fischte sie heraus, öffnete sie und kopierte sie auf eine Diskette. Trofim starrte mich an, als hätte ich soeben Lazarus von den Toten erweckt. Ich war stolz, fühlte mich unersetzlich – genau das hatte Trofim vorgesehen.
Falls ich damals ahnte, dass er meinen wundersamen Fund vorab inszeniert hatte, um mich durch Schmeichelei dazu zu bringen, den gefährlichen Job seines Sekretärs anzunehmen, so ignorierte ich das. Ich weiß bis heute nicht genau, ob er es tatsächlich geplant hatte, doch wie auch immer – es hätte nichts geändert. Ich war vielleicht misstrauisch, handelte aber nicht dementsprechend. Sonst hätte ich mich wohl von allen ferngehalten, von Leo, Trofim, Cilea oder den anderen – und wäre gar nicht erst nach Rumänien geflogen. Doch ich lernte aus alten Fehlern immer nur, neue Fehler bewusster zu begehen. Für mich war Selbsterkenntnis stets das Gleiche wie bewusste Trägheit.
Ich ließ Trofims Dateien Ende April wiederauferstehen und korrigierte sie mit ihm. Er saß rauchend da und breitete seine Erinnerungen aus, und ich tippte sie ein. Seine Sekretärin brachte den Text zum staatseigenen Verlag, wo er lektoriert, zensiert und umgeschrieben wurde, und Trofim und ich bargen die Originaldateien und arbeiteten an den echten Erinnerungen. Hinterher nahm ich die Diskette mit und druckte alles in der Bibliothek der britischen Botschaft aus, um den Text später, wenn ich wieder in seiner Wohnung war, gemeinsam mit ihm durchzugehen. So erblickte Trofims Buch das Licht der Welt.
»Du hast also Genosse Trofim kennengelernt?«, fragte Leo. »Tja, dann hast du eine Hand geschüttelt, die Stalins Hand geschüttelt hat. Angeblich schreibt der alte Trofim seine Memoiren. Hört sich interessant an. Der alte Sergiu ist in ziemlich trüben Gewässern geschwommen. Du wirst bemerken, dass kein Stalinbild in seiner Wohnung hängt. Schon komisch, denn er kannte den Mann mindestens so gut wie seine Genossen, hat auch ein paar Jobs für ihn erledigt … Du musst ihn bei der nächsten Gelegenheit unbedingt danach fragen.«
FÜNF
Ich begegnete Cilea sechs Wochen nach meiner Ankunft. Ich hielt gerade eine Vorlesung über essayistisches Schreiben, als sie hereinkam und sich ganz hinten in den Saal setzte, eine riesige Grotte mit einer Akustik, die meine Worte in weißes Rauschen verwandelte. Die Größe des Bauwerks sollte, wie in Rumänien üblich, jede menschliche Manifestation in den Schatten stellen. Sie hängte sich in der letzten Reihe quer über zwei Sitze und sah zur schmutzigen Glaskuppel auf, ohne die Sonnenbrille abzunehmen.
Ihr Körper war wie ein Signal. Männer und Frauen, die ihr den Rücken zukehrten, drehten sich wie Hunde auf einen lautlosen Pfiff nach ihr um. Das lag nicht nur an ihrer
Weitere Kostenlose Bücher