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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Fahrstuhlknopf zu drücken …« Er wuchtete sich ein schmutziges Treppenhaus hinauf, nahm immer drei Stufen auf einmal. Ich stieß mit dem Fuß gegen etwas, das wie eine auf ihren Fäden liegende Qualle aussah, sich aber als Zahn samt Nervenenden und Wurzel entpuppte. Doch nicht Chaos und Dreck erschreckten mich am meisten, sondern die Leere in diesem Krankenhaus: überall Anzeichen von Krankheit, Wunden und Verletzungen, aber keine Menschen.
    In der Station sahen wir das erste menschliche Wesen, und es war Rodica. Das viele Blut auf ihrem Bett zog sofort unsere Blicke auf sich. Sie war blass und verschwitzt und schlief tief und fest, doch ihr Zustand war bedenklich. Leo ergriff ihre Hand. Ich glaube, er überprüfte, ob sie noch lebte. Das wäre auch meine erste Reaktion gewesen, nur war ich durch alles, was ich hier bisher erblickt hatte, wie vor den Kopf gestoßen. Ihre Decke hob und senkte sich sanft, bewegt von ihren Atemzügen. Sie hatte eine Kanüle im Arm, die mit einem durchsichtigen Plastiktropf verbunden war; ein anderer Schlauch führte von ihrer Nase zu einem auf dem Nachtschrank stehenden Apparat mit Skalen. Man hatte ihn angeschaltet, aber die Kontrolllampe war aus.
    Ringsumher lagen Frauen in den unterschiedlichsten Stadien der Schwangerschaft. Manche hielten ihr quicklebendiges, gesundes Baby; andere dämmerten wie Rodica auf einem blutverschmierten Laken, hingen an einem leeren Tropf; wieder andere harrten noch ihrer Entbindung. Zukünftige Mütter beobachteten jene Frauen, die ihre Kinder verloren hatten, und umgekehrt; erfolgreiche Geburten, Fehlgeburten, Totgeburten – alles lag hier unterschiedslos nebeneinander. In den beißenden Geruch nach Schweiß, Krankenhausmüll und menschlichen Abfällen mischte sich ein Hauch von Angst und tiefster Betrübnis. Hinten im Zimmer saß ein Pfleger, der rauchend eine Patience legte, neben sich eine Flasche Tsuica. Leo ging zu ihm. Stimmen wurden laut: Leo schwenkte die Arme, der Pfleger wandte sich ab, entzündete eine frische Zigarette an der heruntergebrannten, wollte seine Patience fortsetzen. Leo packte ihn bei den Aufschlägen des weißen Kittels, der Mann stieß ihn weg. Eine Weile herrschte Stille. Schließlich holte Leo eine Schachtel Kent heraus. Das änderte die Lage.
    Man brachte Wasserflaschen und ein feuchtes Flanelltuch an Rodicas Bett. Das Wasser war kalt, kam direkt aus dem Kühlschrank. Ich drückte die Flasche auf ihre heiße Stirn, benetzte danach das Flanelltuch und wischte ihr Gesicht ab. Der Pfleger stand auf, rief etwas in den Flur, und Minuten später kam eine junge Ärztin herein. Sie nickte Leo zu und trat neben Rodica, maß ihre Temperatur und fragte mich etwas auf Rumänisch. Nachdem ich ihr signalisiert hatte, dass ich nicht verstand, fragte sie auf Englisch: »Sind Sie ein Verwandter?«
    »Nein, ein Freund. Ein Kollege. Von der Arbeit.«
    Sie ging zu Leo, drehte sich dann wieder zu mir um. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie erwacht. Und machen Sie weiter. Was Sie tun, ist nicht nutzlos.«
    In dieser doppelten Negation kam der Erwartungshorizont der Ärztin zum Ausdruck: Man konnte bestenfalls darauf hoffen, das Schlimmste zu verhindern. Sie war sicher nicht viel älter als ich.
    Wie sich allmählich herausstellte, hatte Rodica Schreckliches durchgemacht. Letzte Nacht, sie war allein in ihrer Wohnung gewesen, hatte sie plötzlich Blut verloren. Sie wohnte in der achten Etage; der Fahrstuhl war kaputt, und sie hatte kein Telefon, aber sie schaffte es irgendwie die Treppen hinunter und weckte einen Nachbarn, der ihr zum Auto eines Freundes half. Sie war um drei Uhr früh im Krankenhaus eingetroffen, bewusstlos und immer noch blutend. Rodica hatte ihr Kind verloren, aber gegen sechs Uhr früh hatte sich ihr Zustand stabilisiert. Sie war lange genug zu sich gekommen, um einen Schluck trinken und von der Schokolade essen zu können, die sie mitgebracht hatte. Man ließ ihrem Mann, der als Ingenieur in Cluj arbeitete, eine Nachricht zukommen, aber er durfte nicht fort. Was danach geschehen war, wusste er sowieso nicht.
    Rodica und ihr Mann gehörten Rumäniens »Technokratie« an, der gebildeten, parteinahen Mittelschicht, die dabei half, das zu verwalten, was vom Land übrig war, nachdem sich das Regime ausgetobt hatte. Was, fragte man sich, mussten jene erdulden, die in der Hierarchie noch tiefer standen, wenn man jemanden wie Rodica so behandelte?
    Die traumatisierte, schmerzerfüllte Rodica wurde aus dem Krankenhaus zum Verhör

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