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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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abgeholt. Die Polizei setzte sie zwei Stunden später einfach vor die Tür, aber sie schaffte es irgendwie, in das Krankenhaus zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt blutete sie stark. Sie hatte einen toxischen Schock. Die Polizisten, von denen sie verhört worden war, hatten ihr nicht sagen wollen, ob sie »angeklagt« werde oder nicht. Leo schlug im Strafgesetzbuch nach: »Verbrechen gegen die Unverletzlichkeit der rumänischen Familie.«
    Die junge Ärztin schämte sich nicht. Es tat ihr nicht leid, sie hatte nicht resigniert, und sie war auch nicht fatalistisch. Sie wich unserem Blick nicht aus. Sie war wütend und trotzig, forderte uns geradezu dazu auf, sie zur Komplizin in dieser Sache zu machen. Ich meinte zum zweiten Mal an diesem Tag, mich für etwas rechtfertigen zu müssen, für das ich nichts konnte, wenn auch aus anderen Gründen: zuerst vor Cilea, die das Elend ihrer Landsleute ausblendete, nun vor Dr. Ottilia Moranu, die mitten zwischen ihren Landsleuten lebte und arbeitete.
    »Sie wird sich erholen. Sie können hier nicht viel tun, außer Sie wären der Meinung, dass ein freundliches Gesicht helfen würde. Das könnte es tatsächlich.«
    Leo wollte Dr. Moranu die Schachtel Kent aufnötigen, aber sie lehnte ab. Wie lange würde sie das durchhalten? Die besten Leute hierzulande gaben einem immer zu verstehen, dass sie jede Bestechung ablehnten. Ich schenkte ihnen mehr Vertrauen als jenen, die gleich einwilligten, aber die wenigen, die sich nie in Versuchung bringen ließen, weckten meinen Argwohn. »Dieser Mistkerl ist blütenweiß!«, rief Leo immer, wenn er jemandem begegnet war, der sich weder bestechen noch erpressen ließ. Jetzt schwieg er, kratzte sich am Kopf, sah Dr. Moranu bittend an. Sie war jung. Vielleicht hatte sie noch nicht begriffen, dass man kein schlechterer Mensch war, wenn man sich bestechen ließ, und kein besserer, wenn man standhaft blieb.
    Ich nahm Leo die Zigaretten ab und warf sie auf Rodicas Bett. »Nehmen Sie sie endlich, verdammt!«, sagte ich, auf einmal angewidert von allem, was ich hier gesehen hatte. »Behalten Sie die Zigaretten oder geben Sie sie ihm …« Ich nickte in Richtung des Pflegers, der uns von seinem Tisch aus beäugte. »Wie Sie es machen, ist egal – Hauptsache, Sie kümmern sich um Rodica.«
    Die Ärztin starrte mich an, zunächst verdutzt, weil ich zu ihr gesprochen hatte, dann wütend, weil ich davon ausging, dass sie bestechlich sei. Leo wich einen Schritt zurück. Ich spürte, dass er mich beobachtete, abwarten wollte, wie sich die Sache entwickelte. Dr. Moranu sah den Pfleger an, dann wieder mich. Ich bin nicht wie er , verkündete ihre Miene. Sie ging zu Rodicas Bett und griff nach den Zigaretten, hielt die Schachtel so weit von sich fort, als wäre sie kontaminiert.
    »Ist das die Art, wie Ihr privatisiertes Gesundheitssystem funktioniert, von dem wir hier so viel hören?«, fragte sie mit sarkastischem Unterton und zornigem Blick.
    »Du bist ja der geborene Diplomat«, flüsterte Leo, als wir gingen. »Ich wusste, dass du genau der Richtige für diesen Job bist.« Im Treppenhaus kam uns der Pfleger entgegen. Er trug Schachteln mit Medikamenten und einen neuen Beutel mit Kochsalzlösung und grinste uns durch den Rauch seiner Zigarette an. Wir hatten ihn gekauft, und er wäre uns eine Weile zu Diensten. Bei bestechlichen Leuten wusste man immerhin, woran man war, dachte ich und nickte ihm kurz und entschlossen zu.
    Wir fanden den Rückweg ohne Probleme. Es war neun Uhr. Die Sonne sank rasch, das Licht war puderig, der Himmel wie gescheckt. Leo öffnete in seiner Wohnung eine Flasche Rotwein und füllte zwei Schwenker. Wir saßen schweigend da, aßen Brot und Käse und Corned Beef, während die Sonne über den westlichen Vororten flackerte und langsam erlosch.
    Eine Stunde später lief ich zu Fuß durch eine Stadt ohne elektrisches Licht. In meiner Wohnung trat ich auf den Balkon und dachte ohne Sehnsucht oder Bedauern an meine Heimat. In der Ferne, Richtung Stadtzentrum, erhellten die Flutlichter auf der Baustelle des Palast des Volkes die wenigen vorbeiziehenden Wolken. In der Schwärze unterhalb meines Balkons flammte Schwefel auf, als sich jemand eine Zigarette anzündete; im nächsten Moment verschwand das Licht hinter der hohlen Hand. In einer Wellenbewegung, die durch die ganze Straße lief, flammten weitere Streichhölzer auf.
    In dieser Nacht schlief ich tief und fest. Der Schlaf der Unbeteiligten , wie Leo halb im Scherz und halb im Ernst

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