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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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und benutzt ihre Steine für die Fundamente neuer Wohnblocks. Unter all diesen Bauprojekten würde man Trümmer alter Kirchen und Klöster finden, wenn man ein bisschen buddeln würde.«
    »Und diese Männer …«
    »Die Männer des Ministeriums – sie kümmern sich um die Vereinigungskirchler, die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, sogar um schräge Christen. Für die Männer des Kult-Ministeriums sind sie alle gleich … Ja, du hast richtig gehört: Das Kult-Ministerium .« Er lachte grimmig. »Früher haben die an der Grenze lebenden Bauern ihre Kirchen auf Räder gesetzt, um sie im Falle einer Invasion der Türken in Sicherheit bringen zu können. Das hätte man hier auch tun sollen.«
    Sobald wir weiterfuhren, erklärte Leo, wohin es ging.
    »Irgendwo hier in der Gegend muss es ein Krankenhaus geben, nur hat es keinen Namen, und da es nagelneu ist, finde ich es nicht auf der Karte. Rodica hatte eine Fehlgeburt … Ihr Mann ist zur Arbeit nach Cluj abkommandiert worden und kann nicht kommen. Aber das ist noch nicht alles. Ein paar Arschlöcher von der Securitate haben sie zur Polizeiwache gebracht, weil sie ihr Baby verloren hat. Überall sonst wäre das eine Tragödie; hier ist es ein Verbrechen.«
    »Ein Verbrechen?«
    »Laut Seiner Höchstpersönlichkeit, Genosse Präsident Nicolae Ceaușescu, Leuchtfeuer des Fortschritts und Donau des Geistes – und er hat das so gemeint, verflucht nochmal, und zwar wörtlich –, ist der Fötus Volkseigentum … In diesem Katastrophenland möchte im Grunde niemand Kinder bekommen, aber der alte Nick schreibt vor, dass jede Familie mindestens drei haben soll. Die Bevölkerung muss wachsen! Ob man die Leute ernähren kann oder Arbeit für sie hat oder ob ihr Leben die reine Scheiße ist – ganz egal. Abtreibung ist ein Verbrechen, die Pille ist verboten, und ein Baby zu verlieren, ist ein Schwerverbrechen!«
    Nach einem Monat in diesem Land war ich bereit, alles zu glauben, sogar dass man Frauen, die ihr Baby verloren, zu Kriminellen stempelte. Nach weiteren zehn Minuten, wir hatten einen namenlosen Boulevard erreicht, begriff Leo, dass wir uns verfranzt hatten.
    »Scheiße«, brüllte er und schlug mit beiden Händen gegen das Lenkrad. »Wo zum Teufel sind wir hier?«
    Eine rhetorische Frage; ich musste nicht erst einen Blick auf die uns umgebende, schnurgerade Leere werfen um das zu begreifen. Falls man Vororte aus dem Boden stampfen konnte, die so gleichförmig und charakterlos waren, dass der Orientierungssinn vollkommen versagte, dann war es hier geschehen. Diese Gegend war gesichtslos. Das Auge suchte einen Halt, glitt aber stets an Oberflächen ab. Hier verliefen sich sicher auch die Bewohner; was angesichts der Orte, die sie ihr Zuhause nennen mussten, für die meisten vermutlich eine Gnade war.
    Leo griff nach einem Stadtplan – vergeblich. »Dieser Plan ist fast unbrauchbar, obwohl ich ihn erst vergangenes Jahr gekauft habe! Ich dachte, wir befänden uns hier, aber hier ist rein gar nichts mehr wiederzuerkennen. Dies war früher das Rotlichtviertel, verflucht, und es gab überall Stundenhotels und Cafés.« Er schüttelte wütend den Kopf. »Die einzigen roten Lichter, die man jetzt noch sieht, sind die Bremslichter der Abrisswagen!«
    Hier gab es niemanden, den man nach dem Weg hätte fragen, kein Auto, das man hätte anhalten können. Leo stieg aus und suchte eine Telefonzelle. Diese gab es in Bukarest in rauhen Mengen; ihre Zahl stand in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem, was man darin sagen durfte. Ich sah zu, wie er ein paarmal dagegen trat, zu einer anderen ging und in den Hörer brüllte.
    Danach beschleunigte sich alles. Nach knapp zehn Minuten standen wir vor dem Tor eines Krankenhauses mit dreckiger Fassade, eine halbe Stunde und zwei Weltwirtschaftszonen entfernt von der teuren Klinik mit dem EPEDEMIA-Graffiti. Rostige Dacia-Rettungswagen standen herum, deren Fahrer rauchten oder Tsuica soffen. Leo hielt vor dem Eingang, und wir gingen ungehindert die Treppe hinauf und betraten die Lobby. Die Rezeption war verwaist. Es gab weder Schilder noch Hinweistafeln oder Richtungspfeile; nur die blutigen Schleifspuren auf dem Boden und an den Wänden boten Orientierung. Verkrustete Verbände, an denen sich brummende Fliegen mästeten, quollen aus einer offenen Mülltonne. Mir schwindelte bei dem Gestank.
    »Was alles du in Thatchers Gesundheitssystem erlebt haben magst, das hier kennst du noch nicht«, sagte Leo grimmig. »Sinnlos, den

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