Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
sagte.
SECHS
Ich erwachte am nächsten Tag in aller Frühe und trank meinen Kaffee auf dem Balkon. Seit meiner Ankunft hatte es nicht geregnet, und Bukarest stank immer penetranter: Abgase, die Ausdünstungen der Mülltonnen, der beißende, leere Geruch heißen Staubs.
Unten auf dem Bürgersteig lagen die Zigarettenstummel des Mannes, der mich auf dem nächtlichen Heimweg verfolgt und danach geduldig beschattet hatte. Nun war er weg. Ich sah nur noch Menschen, die zur Arbeit schlenderten oder die Zeit bis zur Ankunft der nächsten Straßenbahn totschlugen. Der Scînteia -Verkäufer saß in seinem Kiosk und trank aus einem Blechbecher. Er wünschte mir mit einem knappen Wink einen guten Morgen, warf einen Blick in beide Straßenrichtungen und betrachtete dann den Kreis der auf dem Bürgersteig liegenden Zigarettenstummel. Die Hausmeisterin kehrte vom Markt zurück. Sie sah zu mir auf, dann sah sie schnell weg, kramte nach dem Schlüssel für eine Tür, die nie verschlossen war. Nichts hatte sich verändert, und doch verlieh das Wissen, dass man beobachtet wurde, allem eine besondere Note; es war, als wäre die ganze Straße plötzlich kursiv gesetzt worden.
Bei einer Beschattung im Film herrscht stets eine bedrohliche Stimmung, eine atemlose Spannung, die sich entladen oder zu irgendeinem Höhepunkt führen muss. In Wahrheit ist die Beziehung zwischen Beschatter und Observiertem etwas Zielloses, eine surrealistische Groteske ohne Anfang, Mitte oder Ende. Sie hat nichts Dramatisches, und nachdem das Gefühl der Heimlichkeit verflogen ist, wird sie zu einem nebensächlichen und ritualhaften Bestandteil des Lebens, so ähnlich wie regelmäßiger Busverkehr oder zuverlässige Wettervorhersagen.
Anfangs zermürbte mich die Beschattung. Der Mann hatte sein Streichholz gestern Nacht keineswegs versehentlich angerissen. Er hatte mir zeigen wollen, dass die Dunkelheit nicht leer, eine ständige Überwachung aber unnötig war. Von nun an würde ich stattdessen selbst ein Auge auf mich haben. So funktionierte es: Am Ende nahm man ihnen die Arbeit ab. Während ich einen zweiten Kaffee kochte, wurde ich mir auf einmal jeder meiner Regungen bewusst; ich sang in der Küche, brach den Gesang aber ab; vor dem Duschen schloss ich die Badezimmertür, schob sogar den Riegel vor. Genau das bewirkt die Überwachung: Man hört auf, man selbst zu sein, und beginnt neben sich herzuleben. Das menschliche Wesen ist unveränderbar, aber es kann zu einem Grad der Selbstbewusstheit gezwungen werden, der unnatürlich ist. So kam es, dass ich die in mir aufkeimenden Gefühle von Schuld und Heimlichkeit auf die ganze, gleichgültige Straße projizierte.
Ich rief Leo an, doch er nahm nicht ab. Er war vermutlich spät nach Hause gekommen und schlief seinen Rausch aus oder war bei Ioana, wo er angezogen auf dem Sofa pennte. Das Telefon klingelte.
»Ist Leo bei dir? Kannst du ihn mir geben? Er wollte mich abholen und zum Bahnhof fahren. Ich werde meinen Zug verpassen.« Es war Ioana, Leos Verlobte.
»Ioana? Ich dachte, er wäre bei dir. Ich habe versucht, ihn zu Hause anzurufen, aber er ist nicht rangegangen.«
»Er ist nicht bei mir. Wo wart ihr gestern Abend?«
Ich erstattete ihr Bericht, verschwieg aber die meisten Details.
»Arme Rodica. Ich werde sie besuchen, sobald ich wieder in Bukarest bin. Typisch, dass Leo mir nichts davon erzählt hat. Aber die Frage bleibt, wo er jetzt steckt.«
»Keine Ahnung, Ioana. Ich habe seine Wohnung gegen zehn Uhr abends verlassen und bin direkt zu mir gegangen. Ich dachte, er würde noch einmal zum Krankenhaus fahren und danach heimkehren.«
»Sieht nicht danach aus. Welches Krankenhaus?«
Wenn ich das gewusst hätte. Es schien keinen Namen zu haben, und ich konnte unseren Weg nicht zurückverfolgen. Ich versuchte, das Gebäude zu beschreiben.
»Mmm … das engt die Sache ein. Vielen Dank.«
»Er gibt um zehn Uhr einen Kurs. Dann muss er wohl oder übel erscheinen.«
»Er muss gar nichts. Wir sprechen hier von Leo, richtig? Und was wird aus meinem Zug?« Ich hörte, wie sie mit Papieren raschelte. Sie klang so angespannt, als hätte sie den Hörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt. »Ich werde meinen Nachbarn bitten, mich zum Bahnhof zu fahren. Sag Leo, dass er heute Nachmittag bei meinen Eltern anrufen soll. Er kennt die Nummer.«
Ich klopfte im anglistischen Seminar an Leos Tür. Nichts tat sich. Ich wollte gerade gehen, als Ionescu mich abfing. »Ah! Ich habe Sie gesucht!«, sagte er
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