Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Komplizin des Systems war oder nur besser und glücklicher in dessen Zwischenräumen lebte, ohne sich die Hände schmutzig gemacht zu haben. In meinem Beisein ließ sie kein einziges Mal etwas Lobendes über das Regime oder die Partei verlauten, die ihren Luxus ermöglichten und sie beschirmten, aber sie brachte auch nie ihr Bedauern über all jene Landsleute zum Ausdruck, die an der Armutsgrenze dahinvegetierten oder vom Regime verfolgt und geächtet wurden.
Kurz nach unserer ersten Begegnung sagte Leo: »Ah, Cilea – ein vielschichtiges Mädchen.« Und führte dann aus: »Eine oberflächliche Schicht nach der anderen …« Ich frage mich bis heute, ob ich Cilea wirklich gekannt habe. Irgendwann war es für uns beide zu spät, aber ich weiß immerhin, dass Leo sich irrte.
Ich hätte sie vielleicht niemals wiedergesehen, wenn ich kein zweites Treffen vorgeschlagen hätte. Sie wollte schon gehen, und es war ein Versuch auf den letzten Drücker. Ich stotterte eine Einladung jener Art, die an ihrem eigenen, schamhaften Widerruf erstickt. Sie sagte zu, mich am nächsten Tag zum Mittagessen abzuholen. Ich verschwieg ihr, dass ich zu dem Zeitpunkt einen Kurs gab. Ich würde ihn ausfallen lassen.
Ich verbrachte den restlichen Tag in einem Zustand erotisch kribbelnder Erwartung. Ich unterrichtete noch zwei Stunden und machte um sechzehn Uhr Schluss. Als ich die Tür hinter mir schloss, sah ich noch den Stapel unkorrigierter Hausarbeiten, in der Brise des Ventilators flatternd, der die verbrauchte Luft durch das Zimmer jagte. Ich besuchte Leo im Büro. Er telefonierte aufgebracht auf Rumänisch. Ich bekam mit, dass es um Rodica ging, die wegen einer Schwangerschaftskomplikation im Krankenhaus lag.
Leo riss seine Jacke vom Stuhl und holte eine neue Stange Kent aus dem Aktenschrank, dann zog er mich in den Flur.
»Ich erzähle dir alles im Auto.«
Aber das tat er nicht. Leo fuhr nervenzehrend langsam, weil er um keinen Preis angehalten werden wollte: Er verließ den Parkplatz der Universität, fuhr an der Bibliothek vorbei und nahm dann den Boulevard der Akademiker, tuckerte durch das Stadtzentrum in Richtung der nordöstlichen Vororte. Ich konnte den Boulevard des sozialistischen Sieges sehen, eine gewaltige Straße, die nicht in der Ferne verschwand, sondern diese verschlang, alles aufsaugte, was sich an ihren Rändern befand. An ihrem Ende ragte das Stahlskelett eines Molochs von Palast auf wie ein urbanes Phantasma: der »Palast des Volkes«, der der größte der Welt werden sollte. Den wenigen alten Gebäuden, die in seiner Nähe standen, blieb gar nichts anderes übrig, als sich seiner gigantischen Spießigkeit zu unterwerfen. Mit der Sonne im Hintergrund wirkte er durchscheinend, schälte sich als Silhouette aus dem Staub, den er aufwirbelte.
Ringsumher standen Wohnblocks in unterschiedlichsten Grauschattierungen. Zehn Minuten vom malerischen und zerklüfteten Zentrum Bukarests entfernt wurden die Straßen schnurgerade, hatten keine Namen mehr, sondern nur noch anonyme Nummern: »Strada 4«, »Calea 9«, »Piaţa 32«. Wir kamen an zwei Schulen vorbei, die auch nummeriert waren, und erreichten einen großen Kreisverkehr, auf dessen Mitte Maschinenteile verkauft wurden. Sie lagen auf weißen Tüchern zwischen Ölpfützen und Werkzeughaufen, eine Szene, die an die Autopsie eines Roboters erinnerte. Von ein paar kläglichen Schlangen vor den Läden abgesehen, waren die Bürgersteige fast menschenleer.
Hier gab es noch weniger Verkehr. Man sah nur schäbige Straßenbahnen sowie Busse, die schmutzige Abgaswolken aushusteten. Leo folgte dem wasserlosen, betonierten Kanal, der die Stadt teilte, überquerte ihn auf einer Brücke und wartete dann bei Rot an einer vollkommen verwaisten Kreuzung. Links von uns wurden die Trümmer einer alten Kirche in Kisten gefüllt, die man auf bereitstehende Lkw lud. Man hatte die Steine etikettiert und durchnummeriert, und das ganze befremdliche Ritual wurde von Männern im Anzug überwacht. Ein paar schwarz gekleidete Menschen sahen zu. Manche hatten ein Kruzifix in der Hand, andere bekreuzigten sich murmelnd.
»Die Kirche wird zurückgebaut«, sagte Leo. »Man lagert sie entweder ein oder baut sie in einem Freilichtmuseum wieder auf.«
»Eine Kirche, die noch in Betrieb ist?«
»Immer noch geweiht, ja, aber es kommt darauf an, was du mit ›in Betrieb‹ meinst. Sie wurde letzte Woche geschlossen und gestern abgerissen. Und das ist noch gnädig. Die meisten macht man einfach platt
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