Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
gegen die Schulter. »Ist Ihnen klar, wie gefährlich das war?«
»Na ja, Professor, sehen Sie mich doch an – ich würde sagen, dass ich inzwischen eine recht gute Vorstellung davon habe, wie gefährlich es war.«
»Sie nehmen alles auf die leichte Schulter! Das ist kein Spiel. Sie werden nicht immer davonkommen, weil Sie Ausländer sind. Und auch nicht, weil Sie es sind …«
»Tut mir leid, Boss.« Leo setzte eine übertrieben zerknirschte Miene auf und verdrehte die Augen in meine Richtung.
»Was mich betrifft, so sind die Verhältnisse derzeit nicht klar geordnet. Ich kann solche Risiken nicht auf mich nehmen, denn meine Position ist nicht gefestigt. Außerdem habe ich nicht die Zeit, Sie jedes Mal freizukaufen, wenn Sie in der Klemme sitzen … Momentan habe ich nicht einmal die Zeit, mir selbst den Arsch abzuwischen.«
»Ich kann nur hoffen, Herr Professor, dass Sie wenigstens dafür wieder Zeit finden. Wenn nicht um Ihrer selbst willen, so für Ihre Kollegen …«
Ionescu betrachtete Leo kopfschüttelnd. Dann umarmte er ihn. Leo sackte nach vorn und schloss die Augen. Nach all der Sorge und Erleichterung waren beide erschöpft, und Leo wirkte kurz kleinlaut und besiegt. Ich wandte den Blick ab. Schließlich löste sich Ionescu von Leo und rückte die Brille zurecht.
»Und nur nebenbei, Dr. O’Heix: Sie schulden mir fünfzig Dollar und Ihrem Kollegen hier eine Schachtel Kent und zwanzig Dollar!« Er ging davon, ließ uns auf dem Parkplatz stehen.
»Scheck ist schon unterwegs!«
»Ha!« Ionescu schwenkte mit großer, nonchalanter Geste die Hand.
Leo klopfte seine Hosentaschen ab und stellte fest, dass er Schlüssel und Brieftasche verloren hatte. »Autoschlüssel, Haustürschlüssel, Büroschlüssel. Geld. Ausweis. Alles weg. Scheiße. Das war sicher mein Zellengenosse, dieser falsche Betrunkene mit dem echten Tsuica. Rufst du Ioana an? Sie kann mir wenigstens die Wohnung aufschließen.«
»Ioana ist nach Iași gefahren. Sie hat heute früh angerufen. Hat sich gefragt, wo du steckst.«
»Tja, sieht aus, als müsstest du deinem alten Kumpel Leo für ein paar Nächte eine Bleibe bieten.« Er ging zu seinem Auto. Es stand schräg auf zwei Parkplätzen und war mit einer Kralle blockiert worden. Leo kratzte an seiner Stirn, wollte gegen das Auto treten, beherrschte sich aber.
»Ich brauche ein Glas«, sagte er entschieden und setzte sich im Biergarten des Hotels unter einen Sonnenschirm. »Holst du mir eines? Ich bin pleite und ausgesperrt.«
Die Bar des Athénée-Palastes war das Capsia der Trinker: altmodisch, elegant und auf diskrete Art schummerig. Das einzige Zugeständnis an das zwanzigste Jahrhundert bestand in einer durchgehenden Beleuchtung unter dem auskragenden Rand des Bartresens, die den wellengemusterten Teppich hervorhob. Man wurde seekrank, wenn der Blick nach ein paar Drinks darauffiel.
Bis auf einige kubanische Geschäftsleute, die bei Whisky und Club-Sandwiches einen Handel besiegelten, war die Bar leer. Ihnen zuzusehen, machte mich hungrig, und ich bestellte auch etwas zu essen. In Bukarest, das wurde mir in diesem Moment bewusst, hatte ich ständig Hunger, obwohl ich problemlos an Nahrungsmittel kam. Ich hatte den in dieser Stadt herrschenden Hunger verinnerlicht, ohne ihn je erlebt zu haben.
Eine Prostituierte, die vor einem Aschenbecher saß und die Asche ihrer Zigarette zwischen den Zügen zu einem Kegel zusammenschob, sah aus eingesunkenen, blutunterlaufenen Augen teilnahmslos zu mir auf. Sie stellte ihren Körper, der nicht nur ausgemergelt, sondern bereits im Verfall begriffen war, aufdringlich zur Schau. Junge Frauen, die sich in einem solchen Zustand befanden, ließ man eigentlich nicht in die Touristen-Hotels. Sobald Gesicht und Körper zu stark von Krankheit gezeichnet waren, schob man sie ab. Ich gab ihr noch ein paar Wochen; danach wäre sie auf den Baustellen außerhalb der Stadtgrenzen Säufern zu Diensten. Noch ein paar Wochen, dann wäre es aus. Zwei weitere Nutten, trotz harter Züge und sinnlicher Überreife durchaus hübsch, lasen an der Bar in deutschen Lifestyle-Zeitschriften. Bei meinem Eintreten hoben sie kurz den Blick, Pferde, die beim Grasen aufmerkten.
»Erzählst du mir jetzt, was passiert ist?«, fragte ich.
Nach unserem Besuch bei Rodica hatte Leo die Bar des Athénée-Palastes aufgesucht, mehrere Gläser getrunken und sich dann mit deutschen Geschäftsmännern angelegt. »Ich weiß wirklich nicht mehr, warum. Vielleicht habe ich etwas Falsches
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