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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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den Eindruck, die Kulissen für einen im Ostblock gedrehten Alice im Wunderland -Film vor mir zu haben.
    Die Flure wurden immer schmaler. Sie bestanden aus beige gestrichenen Backsteinen und hatten eine gewölbte Decke, unter der quadratische, an Ketten hängende Lampen in der Zugluft schwankten. Alles roch sauber und desinfiziert; die furchterregende Sauberkeit regelmäßigen Putzens. Hier war die Gewalt nicht ungezügelt, brachial oder spontan; solche emotionalen und dynamischen Adjektive passten nicht. Nein, hier wurde die Gewalt zugeteilt. In der Ferne klirrten und hallten Gittertüren, aber man hörte keinen menschlichen Laut. Wir warteten an einem Plastiktisch. Ionescu holte tief Luft und starrte seine Schuhe an, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich konzentrierte mich auf den fluoreszierenden Schimmel, der neben meinem Knie an der gewölbten Wand hinaufkroch. Er schien sich zu bewegen, vor meinen Augen zu wachsen. Ich beugte mich vor, um ihn zu berühren, und er haftete wie Puder an meinen Fingern.
    Wir hörten Leo, bevor wir ihn erblickten.
    »Jawohl, ich möchte umgehend mit eurer gynäkologischen Sicherheitsabteilung sprechen!«
    Ein trockenes, im Flur hallendes Klatschen unterbrach ihn, wenn auch nur kurz.
    »Ich will die Polizei sprechen. Ich habe die Notrufnummer gewählt, aber umsonst. Sind diese Idioten vielleicht noch im Bett, um ihre patriotische Pflicht zu erfüllen?«
    Die Männer, die Leo brachten und wohl für sein blaues Auge und die blutende Lippe verantwortlich waren, wirkten eher genervt als bösartig. Sie waren Funktionäre der Gewalt, und obwohl sie die Peiniger waren, machten sie neben ihrem Opfer einen seltsam passiven Eindruck. Einer klopfte Leo sogar auf die Schulter; die Fingerknöchel seiner linken Hand waren aufgeschürft. Sein Kollege pustete laut aus – er schien sich auf die Rückkehr zu geordneten Machtverhältnissen zu freuen. Leo salutierte, als sie kopfschüttelnd gingen. Sie waren es, die lädiert wirkten, zwei Lehrer, die einen aufmüpfigen Schüler an dessen Eltern übergaben.
    Leo war hart im Nehmen. Wenn jemand eine rumänische Zelle nach einer Nacht in besserer Verfassung als bei der Einlieferung verlassen konnte, dann er. Er stank übel – Schweiß, Alkohol und eine Kopfnote von Urin –, und mit der schwarzen, nicht unbedingt an einen verheilenden Schorf erinnernden Kruste auf der Lippe sah er noch übler aus. Sein linkes Auge war zugeschwollen. Ein Schnitt klaffte quer über einer Braue, auf der noch Tabakkrümel klebten, weil er versucht hatte, die Blutung mit Zigarettenpapier zu stillen. Er musste genäht werden. Trotzdem strotzte Leo, aufgeputscht durch Alkohol, Schmerz und Schlafmangel, nur so von Tatkraft.
    Er breitete die Arme aus: »Genossen! Das wäre doch nicht nötig gewesen. Ich wollte sowieso gerade gehen …« Er wischte sich den Mund ab, wobei er Blut auf seinen Handrücken schmierte.
    Der Weg zurück ans Tageslicht schien Stunden zu dauern. Jetzt wurde kein Schmiergeld gezahlt, und das Warten an den Kontrollpunkten und an den Tresen der Sicherheitsleute schien mit jedem Mal länger zu dauern. Leute, denen Ionescu kurz zuvor Dollarscheine zugesteckt hatte, konnten sich nicht mehr an ihn erinnern. Sie runzelten nur die Stirn, setzten alles daran, jede Formalität bis zur Schmerzgrenze auszudehnen. »Nicht mal die Bestechung funktioniert hier richtig«, flüsterte Leo theatralisch. Man kontrollierte unsere Papiere und zog sie zwecks genauerer Prüfung ein. Ich fand zwei Zehn-Dollar-Scheine und eine Schachtel Kent in einer Jackentasche und gab alles Ionescu, der es an einen Beamten weiterreichte. Als wir schließlich draußen standen, zuckten wir zusammen und beschirmten unsere Augen vor der Sonne.
    »Wo steht Ihr Auto, Leo?«, fragte Ionescu.
    »Auf dem Parkplatz des Athénée-Palastes. Wenn Sie so nett wären, mich dort abzusetzen, fahre ich nach Hause und möbele mich ein bisschen auf. Dann schaffe ich es vielleicht noch bis zum Kurs um elf Uhr.«
    »Sie haben heute frei, Leo. Kommen Sie mir nicht mehr unter die Augen. Ihre Kurse sind gestrichen.« Dann hielt Ionescu eine Standpauke auf Rumänisch. Leo hörte zu, antwortete fröhlich und versuchte, alles in einen Scherz zu verwandeln. Er drehte sich zu mir um, zwinkerte mir mit dem heilen Auge zu.
    Vor dem Athénée-Palast entließ Ionescu den Fahrer mit den Worten, dass wir den restlichen Weg zu Fuß gehen würden. Sobald wir außer Reichweite möglicher Wanzen waren, gab Ionescu Leo einen Stoß

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