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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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hatten, und ich schob eine Hand zwischen ihre Oberschenkel. Sie schmiegte sich verschlafen an mich.
    Da begriff ich plötzlich. Ich sprang aus dem Bett, trat auf den Balkon, warf einen Blick auf die Straße und sah die nahe Telefonzelle. Manchmal ist Paranoia schlicht und einfach die Gabe, die versteckten Zeichen des Lebens deuten zu können; kein quälender Wahn, sondern ein siebter Sinn. Ich wusste auf Anhieb, dass man mich aus dieser Telefonzelle angerufen hatte und dass ich genau das wissen sollte.
    Ich zog mich hastig an und ging hin. Das mit einer Kette an der Wand befestigte Telefonbuch war auf einer Seite mit dem Namen eines großen Supermarktes aufgeschlagen worden. Ein aus einer Zigarettenschachtel gerissenes Stück Papier ragte ein paar Seiten weiter als Lesezeichen aus dem Buch, und auf der entsprechenden Seite hatte jemand die erste Zahl einer Telefonnummer umkringelt – eine Fünf. Wenn das ein Code war, dann war er leicht zu knacken.
    Also stand ich, ohne Cilea oder Leo davon erzählt zu haben, an jenem Nachmittag um siebzehn Uhr in der Eingangshalle des Supermarktes Monocom, ein treffender Name, weil das Angebot ausgesprochen monoton war. Zwischen den verhuschten Kunden stach ein junger Mann hervor: rote, schulterlange Haare; ausgeblichenes, ehemals scharlachrotes Hemd; hellbraune, passgenau sitzende Lederjacke. Er betrachtete eine russische Kamera, richtete sie auf mich und lachte. Er drehte am Objektiv, tat so, als würde er fotografieren. Die Kamera verdeckte Augen und Nase, aber ich sah sein Lächeln, breit, natürlich und nichtssagend. Schon das war verdächtig. Ich stand da und beobachtete ihn, wartete darauf, dass er die Initiative ergriff, als wäre ich um seinetwillen hierhergekommen.
    Bärtig und schlank, ja fast mager, wie er war, erweckte er nicht den Eindruck, zu den Nutznießern dieses Systems zu gehören, sah aber auch nicht aus wie ein Opfer, sondern schien genau zu wissen, wie viel Individualität er inmitten all der Gleichförmigkeit riskieren konnte, ohne dafür büßen zu müssen. Seine Ausstrahlung war maßvoll großspurig; er stach auf unverdächtige Art hervor, wirkte gepflegt, trug eine John-Lennon-Brille und rauchte eine Selbstgedrehte. Unter seiner abgeschabten, aber eleganten Lederjacke, geschnitten im Stil der Sechziger, war das offene Hemd zu sehen. Er trug eine Jeans mit Schlag, seine hohen Kosakenstiefel sahen sowohl nach Militär als auch nach Boheme aus. Er legte die Kamera wieder weg und eilte aus dem Supermarkt.
    Sein schmaler, behender Körper war der einzige Farbfleck in der ganzen Straße, und ich hatte das Gefühl, einen Fuchs in einer Schneelandschaft zu verfolgen. Seine rostrote Gestalt huschte von einem Hauseingang zum nächsten, strebte auf eine Kreuzung und eine Ampel nach der anderen zu. Es war die Hauptverkehrszeit; kaum Autos, aber zahllose Menschen auf den Bürgersteigen, und auf der Calea Victoriei reihten sich Busse und Straßenbahnen aneinander. Einige Blocks weiter ertönten die Sirenen der Motorkade, aber der Mann eilte weiter, vorbei an Ministerien und Botschaftsgebäuden, immer in Richtung Lipscani.
    Lipscani erinnerte mich an Bilder aus dem Paris der Zeit vor Haussmann: schiefe Häuser von unterschiedlicher Höhe und Bauweise, ein Wirrwarr aus Stilen und Materialien, das an einen Slum erinnerte. Vor hundert Jahren war es die Hochburg von Gerüchten, Krankheiten, Verbrechen gewesen; heute war es ein Ort des Eskapismus, der Überraschungen, der flânerie . Das Kopfsteinpflaster war huckelig, manche Straßen waren ungepflastert. Privatautos sah man selten, und die Räder der Straßenbahnen, die sich durch die Nebenstraßen schlängelten, schlugen Funken.
    Dieses Viertel war gefährlich und chaotisch und schien nicht polizeilich kontrolliert zu werden, trotz der allgegenwärtigen Überwachung. Hier wimmelte es von Spitzeln, die sich als Bewohner tarnten, von Bewohnern, die spitzelten, oder von solchen – meiner Erfahrung nach die meisten –, die beide Rollen abwechselnd spielten. Außerdem lebten hier die meisten Roma Bukarests. Die prachtvollen alten, dem Verfall überlassenen Gebäude wurden von Roma bewohnt, die den Abriss des Viertels, von der Regierung für 1990 vorgesehen, tatkräftig vorbereiteten, indem sie den Wohnungen den Rest gaben: Sie entfachten Lagerfeuer in Wohnzimmern, hielten Pferde in Fluren, schlugen Wände heraus, verscherbelten das Blei der Dächer.
    Roma standen oder saßen da, genossen die Nachmittagssonne mit geschlossenen

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