Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Leben führen kann. Aber ich will reisen. Ich möchte nach Spanien, nach Großbritannien, nach Kanada, in die USA … Dorthin zu gelangen, ist schwierig, und wenn man es schafft, ist eine Heimkehr unmöglich. Und ich will heimkehren. Also bleibe ich hier. Was möglicherweise bedeutet, dass ich unser Land nie verlassen werde. Aber viele meiner Freunde wollen weg. Einige sind schon verschwunden. Ich helfe ihnen, und du kannst uns helfen.«
»Und du? Sehnst du dich auch nach Freiheit?«
Meine plumpe Frage enttäuschte ihn. »Ich kenne die Freiheit. Du irrst dich, wenn du glaubst, dass wir sie nicht kennen. Ich habe meine Freiheit genossen, obwohl ich nicht in Freiheit gelebt habe. Aber ich kann warten, denn ich weiß, dass ich erst dann wirklich frei sein werde, wenn ich in diesem Land frei bin. Welche Art von Freiheit kennst du?«
»Schwer zu sagen.« Das stimmte nicht ganz. Obwohl ich ein allgemeines Freiheitsgefühl hatte, hätte ich kein Beispiel für die konkrete Nutzung der mir gewährten Freiheiten nennen können. War das ein Beweis für Freiheit – dass ich sie weder bemessen noch quantifizieren, nie Zeugnis über das ablegen musste, was ich damit anfing? Ich beschloss, konkret zu bleiben: »Hier geht es um dich, nicht um mich. Ich bin frei, ich darf wählen, kann sagen, was ich will, reisen, wohin ich mag …«
»Vielleicht hast du in Freiheit gelebt, ohne frei zu sein?«
»Vielleicht. Wenn ich wüsste, worauf du hinauswillst, könnte ich …« Ich war der Unausgewogenheit und Zähigkeit dieser Diskussionen müde: Ein endloser Schlagabtausch zwischen Leuten aus dem Westen, die nur Kaufkraft und Geld als Merkmale der Zivilisation gelten ließen, und Rumänen, die ihre Würde zu wahren versuchten, indem sie sich darauf versteiften, dass ihr Regime, egal wie schrecklich es war, wenigstens eine bessere Zukunft versprach, auch wenn es dieses Versprechen nicht einzulösen gedachte. In dieser Hinsicht erinnerte mich Petre an Trofim: Er glaubte weiter an die Verwirklichung der Ideale des Kommunismus.
Er zog lange an seiner Zigarette, streckte sich dann auf der Bank aus, bog den Rücken über die Rücklehne. Ich ahnte, dass er eine Rede halten wollte, und sah auf meine Uhr. Ich musste los, den Heimweg finden. Aber Petres Worte hallten in mir nach; nicht weil sie klug, scharfsinnig oder gar wahr gewesen wären, sondern wegen ihrer ungewöhnlichen Reinheit und Sinnhaftigkeit – vor allem jedoch, weil sie zwar heroisch, aber grundfalsch waren.
»Ich habe die Freiheit immer gekannt. Ich lebe in einem unfreien Land, aber ich habe mir Freiheiten genommen. Kleine Freiheiten, nur für Momente, aber Freiheiten. Ich bin damit vertraut. Der Irrtum des Westens besteht darin, uns für Opfer zu halten, für arme Würstchen … zu glauben, dass wir uns nicht einen Teil unseres Lebens freihalten, in dem wir normal und glücklich sind und uns entfalten können. Für uns ist vieles wie für euch: Liebe, Tod, Freundschaft, Vergnügen, gutes Essen und Trinken – wenn wir es bekommen können«, sagte er lachend. »Und all das hat den gleichen Wert und die gleiche Bedeutung …«
»Ich bemühe mich, diesem Irrtum nicht zu erliegen.«
»Ja, du vielleicht. Vielleicht auch ein paar andere. Aber ich weiß, wie ihr uns seht, weil wir nicht auf eure Art frei sind. Wozu dient eure Freiheit? Um einkaufen zu können? Um zwischen zwanzig verschiedenen Kameras auswählen zu können? Euren Kindern sechs verschiedene Müslisorten zum Frühstück anbieten zu können? Ist das Unabhängigkeit? Verlassen meine Freunde deshalb ihr Land? Riskieren sie beim Versuch, über die Grenze zu kommen,deshalb ihr Leben? Um an einem Ort zu leben, wo sie morgens die großartige Wahl zwischen Choco-Pops und Smacks haben?«
»Spar dir das für den Richtigen auf, Petre. Ich streite nicht mit dir. Ich tue nicht so, als wäre der Westen vollkommen, aber du kannst nicht behaupten, dass wir im Westen das Gleiche erdulden wie ihr hier, auch wenn wir viel von unserer Freiheit für Quatsch oder Nebensächlichkeiten vergeuden. Aber selbst diese stehen für das Wichtige – für freie Wahlen, Handlungsfreiheit, Redefreiheit, Glaubensfreiheit. Vielleicht ist die Auswahl an Müslisorten ja beispielhaft für ein Land, in dem man seine Regierung wählen kann.«
»Das ist keine Freiheit«, sagte Petre. »Das bedeutet nur, Kunde zu sein. Ihr alle seid Kunden. Ihr lebt in einem Land der Kunden. Wie hat Mrs. Thatcher sich ausgedrückt? So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht
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