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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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und winkte einem punkigen Mädchen an der Bar, die ein Thatcher-T-Shirt trug. Hier war das ein verblüffender Anblick, aber anders als in England konnte man es nicht ohne weiteres als Ironie einstufen.
    Petre studierte Musik und spielte klassische Gitarre. Er erzählte mir von seinem nächsten Konzert im Atheneum – Bach, Villa-Lobos und Federico Mompou. Ob ich kommen wolle? Er zauberte zwei Karten aus einem Notizblock hervor und reichte sie mir. Wie ich bald darauf erfuhr, spielte Petre auch Leadgitarre bei Fakir , eine Art Underground-Band, deren Konzerte geduldet, aber streng observiert wurden. Leo hatte mir einmal eine Aufnahme vorgespielt: Da die Band nicht in der Künstlergewerkschaft organisiert war und weder in Studios noch Konzerthallen durfte, gab es ihre Musik nur als Bootleg. Ich musterte Petre noch einmal: glatte Haut, zarte und weiche Hände, glänzende Haare, oft getragene, aber saubere Kleidung. Er trug ein schweres keltisches Kreuz über dem Hemd.
    »Petre!«, rief der Kontrabassist, ein eleganter junger Mann im Dreiteiler aus den Fünfzigern und mit Teddy-Boy-Frisur, sozusagen ein Retro-Retro-Look.
    »Du bleibst hier. Ich komme gleich wieder. Wir reden dann.« Petre stand auf und ging zur Band.
    Ich trank Bier und lauschte einem Medley geschmeidiger Jazz-Improvisationen. Nach einer vierzigminütigen Jamsession kehrte Petre an unseren Tisch zurück. Sein Haar war verschwitzt, sein Hemd klebte am Rücken.
    Wir verließen die Kneipe um zweiundzwanzig Uhr. Lipscani war das einzige Viertel in Bukarest, in dem es nach einundzwanzig Uhr ein normales Nachtleben gab. Die Hotels und Bars im Stadtzentrum waren entweder Touristenfallen oder piekfeine Spielwiesen für Parteibonzen, aber hier gab es ein Leben auf der Straße: Betrunkene balancierten auf Bordsteinkanten, Biergärten waren so voll, dass die Leute bis auf die Straße standen. Man kaufte und verkaufte Dinge, die man sonst nie sah und die es vielleicht gar nicht gab – nur der Handel zählte, nicht die Ware. Solche Geschäfte bedeuteten Leben, Subversion, Rebellion: leidenschaftliches Feilschen um Mangelwaren. Zigeunermusik drang aus Innenhöfen oder offenen Fenstern. Irgendwo im Gewirr der Nebenstraßen war der BBC World Service zu hören: Der Jingle ging in den Lillibulero über, dann erklang die einlullende Stimme aus dem Bush House. Ich musste an das Gebäude denken, direkt an der Strand, daran, was jetzt in London los war: die vollen U-Bahnen und überfüllten Pubs, hochoben die Lettern der Neonreklamen, das überschüssige Einkommen, das in der Londoner Nacht verpulvert wurde.
    Diese Tageszeit gefiel mir in Bukarest am besten: Leute drehten eine letzte Runde, die wenigen Cafés hatten noch geöffnet, der gleitende Übergang zum spätabendlichen Trinken in schummerigen Kneipen. Motten mit zerfransten Flügeln flogen gegen Moskitonetze, und je kühler die Nacht wurde, desto deutlicher konnte man die Gerüche des Tages voneinander unterscheiden – Blütenstaub, Abgase, spätes Backen, Zigaretten, all das lag klar voneinander geschieden in der frischen Luft. Die Art, wie Petre alles einatmete, mit geschlossenen Augen, wie ein Weinkenner, der das Bukett einer guten Flasche genießt, erinnerte mich an Leo.
    Auf meine Frage, wo er wohne, gab er keine Antwort. Wir gingen weiter, obwohl ich längst nicht mehr wusste, wo ich war. Wir erreichten einen kleinen Platz, auf dem Petre sich setzte und noch eine Zigarette drehte. Ich fragte ein zweites Mal, und er erwähnte ein neues Wohnviertel außerhalb der Stadtgrenze. Busse und Straßenbahnen fuhren nicht mehr, und Taxifahrer hatten sicher keine Lust auf den weiten Weg. Wo werde er übernachten? Er winkte unbesorgt ab. »Es ist warm.«
    Ich war in meiner Wohnung mit Cilea verabredet. Ich dachte kurz daran, Petre zu bitten, mir den Rückweg zu zeigen, aber ich wusste, dass das genau das Falsche gewesen wäre. Außerdem hatte er mir noch nicht gesagt, was er von mir wollte. Dann dachte ich: Beide studieren an der Universität Musik … Ob sie einander kennen?
    »Du fragst dich, warum ich Kontakt mit dir aufgenommen habe?«
    »Ja, durchaus. Hat es mit meiner Begegnung mit Vintul vor ein paar Tagen zu tun?«
    »Hat damit zu tun, ja.«
    »Möchtest du über die Grenze?«
    Er lachte. »Dies ist mein Land. Warum sollte ich abhauen? Ich wäre nicht mehr derselbe, wenn ich verschwinden und nie mehr zurückkehren würde, und deshalb bleibe ich trotz allem, obwohl es hart ist, obwohl man hier kein wirklich gutes

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